Der Anfang täuscht, deutet einen Routinekrimi an, dem allenfalls die gute Absicht positiv anzurechnen wäre. Eine junge, sehr junge Frau am Straßenrand. Knapper Rock, grell geschminkt, Kunstpelz. Es handelt sich um eine Prostituierte und, noch klischeehafter, eine Frau aus der Ukraine, die als Au-pair nach Deutschland kam, den Aufstieg anstrebte und den falschen Weg wählte. Am nächsten Tag liegt sie tot im Laub eines Naturschutzgebiets. Von Wildschweinen zerbissen, entstellt, verstümmelt. Nochmals Anlass zur Skepsis: Eine entsetzliche Horrorszene um des oberflächlichen Nervenkitzels willen? Minderbegabte Autoren von Krimis brauchen solche Schockeffekte, weil sie nur mit unbeholfenen Mitteln Spannung zu erzielen vermögen. Hier aber verhält es sich ein wenig anders. Am Ende weiß man: Daria Ivancyk (Krista Tcherneva), ein Mädchen, das voller Hoffnungen nach Deutschland gekommen war, wurde auch in übertragenem Sinne den Schweinen vorgeworfen.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Die Rekonstruktion von Ivancyks letzten Monaten durch die Schleswiger Ermittler um Jana Winter (Natalia Wörner) wird zur Dokumentation eines seriellen Missbrauchs. Es gab nicht nur einen Täter, sondern mehrere Mitverantwortliche. Bis zu dieser Erkenntnis bedarf es einiger Umwege, wobei Drehbuchautor André Georgi die Ermittlungskompetenz der Kriminalisten nicht in Frage stellt. Versiert gebieten sie über Handy-Ortung, gewinnen Erkenntnisse aus der Analyse eines anonymen Anrufs, werten Ergebnisse der Rechtsmedizin und der Kriminaltechnik aus. All das aber macht die persönliche Vernehmung nicht überflüssig, im Gegenteil. Hier zeigen sich unterschiedliche Temperamente. Jana Winter weiß sich feinfühlig und diplomatisch zu verhalten, der Rabauke Mathias Hamm (Ralph Herforth) sucht eher die Konfrontation und hat Spaß daran. Bissig provoziert er eine herablassende Zahnarztgattin. Die wehrt sich schwach mit dem Vorhalt: „Sie sind so ein ganz Schlauer, oder?“ – „Ja“, bestätigt er breit grinsend. In einer anderen Szene denkt er darüber nach, zur Flensburger Kripo zu wechseln: „So ‛n Beißer wie mich, den nehmen die da mit Handkuss.“
Da steht der eher schwächliche Abteilungschef Arne Brauner (Martin Brambach) so manches Mal mit offenem Mund, aber sprachlos daneben. Insbesondere wenn Hamm genüsslich über die Stränge schlägt und beispielsweise einen polizeibekannten Zuhälter aus der Wohnung und der Reserve lockt, indem er mit seinem Dienstwagen auf dessen heiß geliebten Ford Mustang losprescht. Das Manöver funktioniert. In Unterhosen und Socken und heller Auflösung kommt das trübe Bürschchen angerannt. Brauner, wegen einer früheren Alkoholkrankheit komplexbeladen, zeigt sich in dieser Episode verunsicherter denn je. Durch eine unfeine Schnüffelaktion hat er herausbekommen, dass Winter von Seiten des Landespolizeidirektors eine Fortbildung angeboten wurde, die, so fürchtet er nicht zu Unrecht, seine Ablösung zur Folge haben könnte. Hamm hat er ins Vertrauen gezogen, das Wissen – oder Nichtwissen – der beiden vergiftet das Arbeitsklima in der Dienststelle. Brauner lässt seiner schlechten Laune freien Lauf, verliert die Beherrschung, nörgelt an Jana Winter herum, will sich partout beweisen. Das immerhin mit Erfolg. Er leistet einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Falles.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Judith Kennels Inszenierung fällt gewohnt solide aus, das Drehbuch von André Georgi aber ist eine Glanzleistung. Allein wie er das Misstrauen in der Ermittlergruppe szenisch erfasst, macht den Film schon sehenswert. Hinzu kommt, dass er in einer geschickten Volte das Schicksal des gepeinigten ukrainischen Mädchens auf deutsche Verhältnisse überträgt. Nicht nur mittellose junge Frauen aus osteuropäischen Ländern sehen sich zur Prostitution gezwungen. Ein invalider Ehemann, das Zuhause ein unverkäuflicher Rohbau, drei Kinder, keine Aussicht auf einen regulären Arbeitsplatz. Eben noch gehobener Mittelstand, binnen kurzen in tiefer Armut – eine Ehefrau aus bürgerlichen Verhältnissen sieht keinen anderen Ausweg und wird zum Callgirl. Demgegenüber jene, die sich jede Art von Dienstleistung kaufen können und das weidlich ausnutzen. Auch dies ein Auswuchs der gesellschaftlichen Teilung. Auf beiden Seiten ist Moral ein hinfälliger Wert. Die einen können sie sich nicht mehr leisten, die anderen gönnen sich Unmoral als prestigeträchtigen Ausdruck eines luxuriös-dekadenten Lebensstils. Georgi beschreibt die Verhältnisse mit einer der Ethnographie nahe kommenden Präzision, ohne je didaktisch zu werden, vermeidet selbstgerecht-demonstrative Empörung, gewinnt der Geschichte sogar unterhaltsame Momente ab. Dafür sorgen die treffsicheren, folkloristischen, lakonischen Dialoge. Fragt Jana Winter einen Verdächtigen: „Haben Sie eine schwarze Lederjacke?“ Die Riposte des Strizzis: „Ja. Logisch. Sie nich’?“