Illegaler Aufenthalt, Urkundenfälschung, auf dem Papier eine klare Sache: Der Iraner Joon Rostami (Altamasch Noor) muss abgeschoben werden. Die Bundespolizei rückt an. Der Mann flüchtet – und plötzlich hält er dem Einsatzleiter Roland Orbach (Maximilian Brückner) dessen Dienstwaffe an den Kopf. Die jungen Kollegen, Mona Nowak (Rocio Luz) und Jalil Nasser (Aziz Dyab), Partner auch im Privatleben, sind überfordert. Gut, dass es einen Ericksen (Armin Rohde) gibt. Der erfahrene Kollege vom KDD versucht die Lage zu deeskalieren, klärt Rostami über seine Vergehen auf – jetzt auch noch Widerstand gegen die Staatsgewalt, Waffenbesitz und versuchte Geiselnahme – und verspricht ihm, dass er nicht in Abschiebehaft, sondern vor Gericht kommt. Der Hintergrund für all‘ die Vergehen ist auch ein privater: Der politisch verfolgte Iraner ist nach Deutschland illegal zurückgekehrt, weil seine schwangere Frau Hasty (Sogol Faghani) in einer Hamburger Flüchtlingsunterkunft lebt. Als Rostami aufgeben und die Waffe niederlegen will, erschießt die panische Polizistin den Mann, der eigentlich keine Bedrohung mehr darstellt. Gegen Nowak werden noch in der Nacht die Ermittlungen aufgenommen. Ericksen und seine Kollegin Tülay Yildirim (Idil Üner) würden das gern übernehmen, doch KDD-Chef Ömer Kaplan (Özgür Karadeniz) wird eine Kollegin vom LKA zugestellt, eine alte Bekannte: Mimi Hu (Minh-Khai Phan-Thi).
Foto: ZDF / Nik Konietzny
Das Drama in der Flüchtlingsunterkunft hat eine weitere Vorgeschichte, von der weder die in Sachen fahrlässige Tötung oder Totschlag im Dienst ermittelnde Ex-KDDlerin noch Ericksen & Co etwas wissen. Die Kollegen von der Bundespolizei haben es gesehen: Orbach, ihr Vorgesetzter, hat voller Wut mit seinem Schlagstock auf den am Boden liegenden Rostami eingedroschen. Auch der Zuschauer wurde Augenzeuge dieser brutalen Attacke. Dieses Mehrwissen sorgt für die Emotions- und Spannungsbasis der 19. „Nachtschicht“-Episode. Der Titel „Der Unfall“ legt nahe, dass die Polizistin, die den Iraner erschossen hat, sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden hat, die von ihr allerdings zusätzlich angeheizt wurde durch ihre physische Verfassung: Sie war übermüdet, verkatert, hatte Alkohol im Blut. Trotzdem bleibt die Frage: Warum hat sie zweimal geschossen und warum mitten ins Herz? Während sich diese Frage rasch beantworten lässt, ziehen sich andere Fragen durch den Film: Wie wird Nowak ihre Todesschüsse seelisch verkraften? Wird sie gegen ihren Vorgesetzten aussagen? Welchen Einfluss wird ihr Freund und Kollege auf sie nehmen, der stärker mit Orbach sympathisiert als sie? Aber auch die Aktionen der Gegenseite versprechen Drama und Suspense: Was wird Orbach dagegen tun, dass das Video, das ein Asylbewerber von der brutalen Schlagstock-Aktion gemacht hat, nicht auftaucht? Was unternimmt die Frau von der Wohnheim-Security (klasse ungewöhnlich besetzt: Nadeshda Brennicke)? Und was passiert, wenn sich die junge Witwe und die Bundespolizistin begegnen?
Der Fragenkatalog deutet an, wie komplex die Interaktionen sind und wie dicht (der Autor) Lars Becker das dramaturgische Netz in „Der Unfall“ spannt. Anders als in den meisten bisherigen „Nachtschicht“-Episoden gibt es nur einen Fall. Alle Handlungsmomente beziehen sich also auf diesen einen „Unfall“: darauf, wie es zu den tödlichen Schüssen kam und welche Auswirkungen die bundespolizeilichen Aussetzer und Ausraster haben werden. Jede Kommunikation beeinflusst eine andere, jede Figur verfolgt ihre eigene Agenda. Aus all dem ergibt sich eine spezielle Spannung im Sinne einer Gespanntheit darauf, wie es weitergehen wird: Wer koaliert mit wem? Welche Deals werden abgeschlossen („Wir vergessen das jetzt und du erzählst uns…“)? Wie wird sich beispielsweise Bas Petros (Selam Tadese), der König der Schleuser, verhalten, den Orbach ausfindig macht und der dafür sorgen soll, dass das Polizeigewalt-Video verschwindet? Nicht immer bewahrheiten sich die schlimmsten Befürchtungen, die man sich als Zuschauer macht. Die Geschichte ist bitter genug, da muss sie nicht auch noch bis zum bitteren Ende ausgespielt werden. Dies ist weniger der öffentlich-rechtlichen Moderatheit, die mit dem 20.15-Uhr-Sendeplatz einhergeht, geschuldet, als vielmehr Beckers Hang zum Realismus, der der (künstlichen) Hochspannungsdramaturgie zuwiderläuft. Nebenbei bemerkt – Beckers Realismus ist nicht mit dokumentarischer Korrektheit zu verwechseln: Wer nimmt schon noch in derselben Nacht interne Ermittlungen gegen eine Polizistin auf, die unter Schock steht?
Foto: ZDF / Nik Konietzny
In Zeiten, in denen der öffentliche Diskurs zum Thema Asyl vor allem von Anschlägen, dem Streit um die Abschiebepraxis und der AfD-Politiklinie bestimmt wird, ist es ein Verdienst dieser „Nachtschicht“-Episode, auf die andere verfassungsrechtliche Seite des Asylrechts hinzuweisen: Migration als Menschenrecht für politisch Verfolgte. Der im Film erschossene Flüchtling ist kein Krimineller, sondern ein harmloser, freundlicher Koch, der bei seiner schwangeren Frau sein möchte. Auf dem Weg dorthin macht er sich mehrerer Straftaten schuldig. „Der Unfall“ erzählt das emotionale Drama der Rostamis, analysiert aber auch die verschiedenen Kräfte, die an dem tödlichen Vorfall beteiligt sind. Es geht um das System, das die Not der Flüchtenden ausnutzt. „Herr Petros bringt die Arbeitskräfte ins Land, Herr Trudda beutet sie aus. Da müsste man eigentlich sogar von organisierter Kriminalität sprechen“, bringt es Ericksen auf den Punkt. Und es geht um die Belastungen, auch auf Seiten der Polizei. Dass es einen Bundespolizisten geben muss, der das Gewaltmonopol des Staates mit einem Hang zur Selbstjustiz belegt, hätte die Geschichte nicht gebraucht, die Dramaturgie allerdings schon. Denn der Druck, der von ihm als Einsatzleiter ausgeübt wird auf seine jungen Kollegen, ist mitentscheidend für die falsche Reaktion der unerfahrenen Bundespolizistin. LKA-Frau Mimi Hu erklärt das sehr anschaulich: Unter Druck verändert sich die Wahrnehmung ganz gravierend – und es strömt zugleich all das ins Bewusstsein, was einem über „die Lage“ mit auf den Weg gegeben wurde. Orbach, der die Situation befeuert, den Iraner als kriminell und gefährlich abstempelt, sitzt quasi im Kopf von Mona Nowak. Stark, wie Rocio Luz diesen Stream of Consciousness in der Befragungssituation zum Ausdruck bringt.
Auch filmisch und dramaturgisch überzeugt „Nachtschicht – Der Unfall“ durchweg. Die Verhöre und polizeilichen Besprechungen sind konzentriert, sie liefern Fakten, verdichten die Standpunkte, sind nie zu lang und wirken dank der physisch agierenden Schauspieler lebendig und nie übermäßig wortlastig. Auch das (wenige) Licht macht dem Reihen-Titel alle Ehre. Die Besetzung, aber auch die Geschichten von „Nachtschicht“ waren immer schon ausgesprochen divers. Das Asylthema bestätigt erwartungsgemäß diesen Trend. Und noch etwas – es wird nicht thematisiert, schwingt aber umso selbstverständlicher bei diesem Film mit: Außer Armin Rohdes Ericksen und Maximilian Brückner als Antagonist stehen den Asylanten deutsche Beamte mit Migrationsgeschichte gegenüber. Sie hatten das Glück der früheren Geburt. Die, die es heute schaffen, nach Deutschland zu kommen, sind die Ärmsten der Armen. Bei allem Realismus ist und bleibt „Nachtschicht“ aber immer auch Polizeifilm, also Genrekunst: Mit Blick auf die zwei weiblichen Episodenhauptfiguren darf also auch eine gute Portion Utopie im Spiel sein.
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