Damit alles so bleiben kann, wie es ist, muss sich so einiges im Städtchen Waldsee ändern. So sieht das zumindest Bürgermeisterin Kristina Lurz (Silke Bodenbender). Das Pilotprojekt für indische IT-Kräfte, eine Idee, die ausnahmsweise mal ihr antriebsschwacher Mann Lennart (Christian Erdmann) hatte, kommt bei der Bevölkerung, allen voran dem Billard-Bar-Betreiber Harry Peuckert (Alexander Hörbe) und Kristinas Vorzimmerdame Mechthild (Inga Dietrich), jedoch gar nicht gut an. Für einen indischen Digitalisierungsschub überraschenderweise offen zeigt sich der Unternehmer alter Schule, Joachim Kraft (Jörg Schüttauf); seine Tochter Charlotte (Hanna Plaß) und deren Kollege Lennart Lurz sollen die Sache vorantreiben. Doch ausgerechnet der Bürgermeisterinnengatte boykottiert bald seinen eigenen Vorschlag. Das hat damit zu tun, dass er das Ersparte für den geplanten heimischen Wintergarten, auf dem Kristina gern den Ministerpräsidenten und die indische Delegation für eine Homestory publicityträchtig begrüßen würde, mit einem Kryptowährungsdeal verzockt hat. Doch damit nicht genug. Plötzlich legt noch ein Virus alle Computer der Stadt lahm, und ein Erpresser fordert eine Million Euro. Der Hackerangriff kommt offenbar aus Waldsee selbst. Das piefige Städtchen unsicher und das allgemeine Chaos perfekt machen schließlich noch zwei sehr spezielle Kriminelle (Hinnerk Schönemann und Sebastian Schwarz).
Foto: ZDF / Moritz Schultheiß
Waldsee klingt nach Natur. Doch weder bekommt man in „Ein ganz großes Ding“ Wald noch einen See zu sehen. Stattdessen Kleinstadt-Tristesse. Und das titelgebende große Ding entpuppt sich in der ZDF-Komödie als der typische Provinztraum derer, die „größer“ denken wollen, die Rechnung aber nicht mit denen gemacht haben, die das Althergebrachte lieben. Eine kleine Stadt mit kleinen Ansprüchen. Weshalb im Amt auf Digitalisierung setzen, wenn man so einen schönen Farbdrucker hat? „Dieses verpennte Kaff!“, schimpft die Bürgermeisterin, die sich politisch zu Höherem berufen fühlt. Und zu ihrem Leidwesen sieht es bei ihr zu Hause nicht anders aus: Sie will etwas bewegen, doch ihr Göttergatte bremst ständig nur, vermeidet größere Anstrengungen, und wenn er mal was wagt, geht es garantiert daneben. Gleich in der ersten Szene zeigt sich das ungleiche Kräfteverhältnis. „Du gibst immer gleich auf, bevor zu irgendwas versucht hast“, wirft Kristina ihrem Lennart vor. „Wann hab‘ ich irgendwas aufgegeben?“ Sagt’s – und stellt die Weinflasche ab, die er soeben vergeblich zu öffnen versuchte. Er fände es so schön, wenn sie mal stolz auf ihn sein könnte. Die Kryptopleite ist da eher kontraproduktiv. An der Beziehung wird sich also wenig ändern. Sie bleibt die Mutti nicht nur für ihren Teenie-Sohn, sondern auch für diesen ewigen Jungen um die 50.
Soundtrack: The Ventures („Apache“), Meat Loaf („I’d Do Anything For Love“), Elvis Presley („Always On My Mind“), Muddy Waters („Mannish Boy“), Tennessee Ernie Ford („Sixteen Tons“), April Stevens („Kiss Me Tiger“), The Doors („The Spay“), Tom Jones („It’s Not Unusual“)
Auch wenn „Ein ganz großes Ding“ – anders als beispielsweise „Merz gegen Merz“ – Politprovinzpossen-gemäß über eine private Nabelschau hinausgeht, so bleiben doch die Ehe-Scharmützel inklusive einiger Beziehungsweisheiten eine Spezialität von Autor Ralf Husmann. „Eine Ehe basiert doch nicht auf Wahrheit, sondern auf Gewohnheit und Vertrauen“, belehrt der dauerverunsicherte Lennart die Tochter vom Chef. Weshalb also die Sache mit dem verzockten Geld beichten? „Basiert Vertrauen nicht auf der Wahrheit?“, wirft jene Charlotte ein. „Ist doch Quatsch. Also Kinder zum Beispiel, die vertrauen ihren Eltern, weil sie ihre Eltern sind, aber in Wahrheit sind das doch nur zwei Leute, die mal Sex hatten.“ Schließlich die Krönung des Desillusioniertseins: „Wann war dein Leben das letzte Mal aufregend?“, will die Kollegin wissen. „Ist ja jetzt auch nicht vielleicht der Sinn des Lebens, aufregend zu sein. Dafür hat man ja die Ehe und die Familie erfunden.“ Dass sich die beiden so gut verstehen, der Mann, der nicht erwachsen werden will, und die Frau, die ihr Tochter-Image und ihren Vaterkomplex nicht loswird, hat offensichtliche Gründe: „Verkack’s nicht wieder auf den letzten Metern“, rät ihr der Papa. Darauf die Mittdreißigerin mit großen Augen: „Das ist das Schönste, was du je zu mir gesagt hast – ernsthaft“.
Foto: ZDF / Oliver Feist
Die Dialoge sind Husmann-like das komödiantische Herzstück dieses 90-Minüters. Hinzu kommen die vielen kleinen Dinge, vermeintliche Nebensächlichkeiten wie die Sache mit dem Korkenzieher oder dem Drucker, der – wie man beiläufig im Hintergrund sehen kann – nicht so funktioniert, wie er funktionieren sollte. Dass die Bürotür der Bürgermeisterin zum Vorzimmer offen bleibt, ist in Kombination mit der nörgeligen Mechthild („Warum kann nicht mal was so bleiben wie es ist“) dramaturgisch ein kluger Schachzug. So ist immer reichlich was los. Dieser Eindruck setzt sich fort in der dichten Inszenierung von Francis Meletzky. Splitscreen-Bilder bringen es auf den Punkt: Waldsee, ein Ort des Schreckens – brüchige Fassaden, die Bürgersteige hochgeklappt, die wohl hässlichste Kapelle Deutschlands, Sinnbild für die Agonie der Kirche, ein Spielplatz voller Verbotsschilder, eine Billard-Bar als soziales Zentrum der Stadt… Im Schlussdrittel kommt es zu mehreren Nacht-und-Nebel-Aktionen, Observationen, Einbrüche, Entführungen, maßgeblich unter Rauschmitteleinfluss, die ebenso abwechslungs- wie temporeich miteinander verschnitten werden. Jeder verdächtigt jeden, der Millionenerpresser zu sein. Einen Hinweis darauf, was einen Köstliches und Absurdes erwartet, geben bereits die ersten Szenen des Films. Zwei kriminelle Kidnapper (Hinnerk Schönemann als die Doofheit in Person) im Quatsch-Quatsch-Modus und zwei Ladys im Clinch – und eine Prise Cayenne-Pfeffer im Auge.
„Ein ganz großes Ding“ ist eine echte Komödie, kein Film, der unter dem Deckmäntelchen der Dramödie allzu deutlich Moral predigt. Zeitgeist-Phänomene wie Digitalisierung oder Spaltung der Gesellschaft („Das, was du hast, ist keine Meinung, das ist eine Vorurteilssammlung“) werden ironisch aufgespießt – und beiläufig in den schön chaotischen Plot integriert. Am Ende ist man als Zuschauer geneigt zu sagen: „Viel Geschrei um nichts“. Für eine Komödie wahrlich nicht das schlechteste Prinzip. Und so ist klar, dass Lennarts Traum, wie er seine „Prinzessin“ für immer gewinnen kann, nicht aufgehen wird: Statt wie der Held im Märchen den Drachen zu töten, zieht dieser am Ende vor dem „Miniprä“ und einigen verdutzten Indern blank. Danach fallen die durchweg vorzüglich vergnüglichen Schauspieler tanzend aus ihren Rollen und verabschieden sich mit allerlei ulkigen Verrenkungen und mit einem Augenzwinkern aus dem Film.
Foto: ZDF / Oliver Feist