Eine Fußgängerin ist von einem Pkw erfasst worden. Ist das ein Fall für die Kripo? Kriminalrat Lemp (Felix Vörtler) ist erfahrungsgemäß anderer Meinung als seine geschätzte Kollegin Doreen Brasch (Claudia Michelsen). Aber er kennt sie, er weiß, dass sie nicht ablassen wird von diesem Fall. Denn die Frau, die im Koma liegt und von der nicht mehr bekannt ist als ihr Vorname (und selbst der wird sich später als falsch erweisen), ist eine verlorene Seele und ihre Geschichte ein einziges Fragezeichen. „Wenn sie jetzt stirbt, dann ist es so, als hätte es sie nie gegeben“, sagt die Kommissarin und macht sich an die Arbeit. Sie befragt eine Prostituierte (Iza Kala), die in der Nähe des Unfalls ihren Job macht. Sie kannte jene „Sarah“ (Mareike Sedl) offenbar nur für eine Zigarettenlänge. Etwas mehr erfährt Brasch von der alleinerziehenden Studentin Berna (Rona Özkan), bei der die verzweifelte, schwer zugängliche Frau vor wenigen Wochen untergekommen ist. Statt Miete zu zahlen, hat sie einen Teil von Bernas Schichten bei einer Putzkolonne übernommen. Wie Bilder einer Überwachungskamera zeigen, muss ihr dabei der stadtbekannte Architekt René Tamm (Stephan Kampwirth) begegnet sein. Von da an wird alles anders. Dieser Mann wird zu „Sarahs“ Obsession. Fühlt sie sich mit ihm verbunden? Ist er ihr schon mal begegnet? Stalkt sie ihn und seine Frau (Martina Ebm). Will sie ihm Böses? Aber wieso ist sie dann so „aufgeblüht“ nach Tamms Auftauchen?
Foto: MDR / Stefan Erhard
„Widerfahrnis“ ist der zwanzigste „Polizeiruf 110“ mit Claudia Michelsen als Magdeburger Kommissarin. Dieser Jubiläumsfilm kann als ein Geschenk an diese Ausnahme-Schauspielerin gesehen werden, aber auch an all die Zuschauer, denen dieser ganze (öffentlich-rechtliche) TV-Krimi-Irrsinn in einer immer wahnsinnigeren Welt zu viel wird. Der Film von Umut Dağ nach dem Drehbuch von Zora Holtfreter und Lucas Thiem ist einerseits – was Plot und Inszenierung angeht – angenehm reduziert, schöpft andererseits aber das ganze Potenzial dieser etwas anderen Ermittlerfigur aus, die erst zu sich und zu den ihr passenden Geschichten gefunden hat, als sie auf sich allein gestellt war. Erst da konnte sie ihre Gefühlswelt ausleben, Empathie zeigen, in die Tiefe gehen, bis es wehtat. Kein Oberflächengezanke, keine beleidigten Männer mehr. Die „Scheidungen“ von Drexler (Sylvester Groth) und Köhler (Matthias Matschke) taten der Kommissarin gut. Kein dramaturgisches Herumreiten mehr auf Gegensätzen. Das gilt für den neuen Fall ganz besonders. Schluss mit dieser blöden Konvention, bei dem der Chef den Fall zu den Akten legen will, die Kommissarin aber nicht loslassen kann! Dieser Lemp an ihrer Seite ist ideal für Brasch: ein Mann, der sie versteht, ihren Eigensinn abkann und der nicht in Konkurrenz mit ihr treten muss. Ein Freund, wie er im Genre-Buche steht.
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Schon der Filmtitel klingt merkwürdig, altmodisch, irgendwie kryptisch: „Widerfahrnis“. Ebenso ungewöhnlich für einen ARD-Sonntagskrimi ist auch die Geschichte – weniger der Unfall mit Fahrerflucht und Komafolge, der ja im Laufe der 90 Filmminuten kein Unfall bleiben muss, mehr die Art und Weise, wie diese Geschichte erzählt wird: In Rückblenden, die stets mit Szenen in der Gegenwart korrespondieren, wird die Vergangenheit dieser seltsam traurigen Frau aufgefächert. Dies sind mehr als bloße Schlaglichter, die etwas verdeutlichen sollen, um schnell wieder in die Gegenwart zu switchen. Nein, dieser Film erzählt die Suche nach einer Vita, ist die Rekonstruktion eines Schicksals – und erst danach kommt die Suche nach möglichen Motiven für die Tat. Zwischenzeitlich fragt man sich als Zuschauer: Geben diese Rückblenden möglicherweise gar nicht die objektive Wahrheit der Geschehnisse wieder, sondern nur das, was die Befragten aussagen oder erinnern? Wenig später verwirft man diese Möglichkeit wieder. Will sagen: Trotz überschaubarer Handlung, ruhiger Interaktionen und sparsamer Kommunikation kann ständig so viel passieren im Kopf des Betrachters. Man will es wissen, will das Rätsel um diese Frau lösen. Ahnungen reichen nicht. Auch ohne tödliche Bedrohung und ohne Action wird die Neugier gefüttert – sinnlich und unmittelbar in den Bildern, den Gesichtern, der Angst, dem Schmerz, der Panik, dem trostlosen Spätherbst-Ambiente. Dieser „Polizeiruf“ definiert Spannung anders als ein klassischer Ermittlerkrimi. Brasch fühlt sich ein – und nimmt die Zuschauer:innen mit auf eine Reise in ein persönliches Drama, eine menschliche Tragödie. Ergeben sich aus dem Spiel mit dem Mehrwissen des Zuschauers häufig die komplexesten Krimis, so ist es hier der emotionale Fluss aus Geheimnis und Empathie, der einen an die Geschichte bindet.
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Die kongeniale Filmsprache trägt das ihre dazu bei, dass es auch ohne Mord und Totschlag kein Entrinnen gibt. Kein Bild, kein Wort zu viel, nichts zufällig, nichts beliebig. Besonders beeindruckend sind Großaufnahmen, in denen sich ein Kopf in eine Totale schiebt: Brasch/Michelsen nachts im Auto, bizarr umkreist von Windrädern, oder gegen Ende, nachdenklich schweigend im Wohnwagen der Sexarbeiterin. Der magische Sog aber entsteht aus der Engführung von Gegenwart und Vergangenheit. Es ist ein Flow, den man allenfalls aus den frühen „Spreewaldkrimis“ kennt. Vielleicht mag manch einer zu Beginn noch denken: Das ist doch keine Leiche. Was geht mich diese Frau an? Und dann dieses Gesicht, so verhärmt, so unattraktiv, so wenig Instagram-tauglich! Aber gerade das macht diesen Film so wertvoll, weil er den Fokus auf den Menschen richtet, auf ein Opfer (dummer Zufälle), und dies in einer Zeit, in der „Opfer“ zum Schimpfwort geworden ist, Täter Kultstatus besitzen und der Nervenkitzel immer häufig auf Kosten des Mitgefühls geht. Insofern ist dieser „Polizeiruf“ aus Magdeburg mit seiner sensibilisierenden Kraft gesellschaftlich relevanter als jeder gut gemeinte Themenfilm. Und aus einem weiteren Grund ist „Widerfahrnis“ eine Ausnahmeproduktion: Wenn es schon kaum noch 90-minütige TV-Dramen gibt, muss man dankbar sein, wenn ein Reihen-Krimi diese Lücke so klug und fesselnd füllt.
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