Polizeiruf 110 – Du gehörst mir

Michelsen, Vörtler, Hartmann, Schiller, el Bitar, Wischnewski. Wechselbad der Gefühle

Foto: MDR / Felix Abraham
Foto Rainer Tittelbach

Gelegenheit macht Diebin. Eine Frau, die ihr Baby verloren hat, raubt sich ein anderes – und bringt damit nicht nur eine junge Mutter an den Rand der Verzweiflung, sondern setzt auch dem liebenswürdigen Kriminalrat Lemp, den sie in ihre Gewalt bringt, körperlich mächtig zu. Dass es sich bei dem „Polizeiruf 110 – Du gehörst mir“ nicht um einen üblichen Krimi, sondern um ein vielschichtiges Drama handelt, macht der Film bereits in seinen ersten Bildern deutlich. Die Triebkräfte der Geschichte sind der große Schmerz, der sich Bahn bricht in Gewalt, und die tiefe Verzweiflung, die sich pathologisch auslebt. Durch die kluge Erzähl-Konstruktion und die Beredtheit der Bilder weiß man als Zuschauer mehr als die Figuren, und man beginnt früh zu spekulieren. So bleiben auch ohne Jagd nach einem Mörder oder einer echten Kriminellen die 90 Minuten durchweg spannend. Und die Schauspieler, allen voran Franziska Hartmann und Felix Vörtler im sensiblen Psycho-Duell, sind große Klasse.

„Wo ist mein Baby?!“ Lana Stokowski (Hannah Schiller) ist außer sich. In einer belebten Fußgängerzone ist ihre Tochter Lucy am helllichten Tag entführt worden. Inga Werner (Franziska Hartmann), der Diebin, geht es nicht um Erpressung, stattdessen versorgt sie die Kleine, stillt sie, als wäre es ihr eigenes Kind. Zur selben Zeit verabschiedet sich Doreen Brasch (Claudia Michelsen) von ihrem Chef Uwe Lemp (Felix Vörtler), der sich noch heute für ein Sabbatical Richtung Irland aufmachen will. Doch daraus wird nichts. Denn der freundliche Kriminalrat sitzt in der Wohnung einer Nachbarin fest. Mit einem Hockeyschläger prügelte die Frau auf ihn ein. Eine Tat im Affekt, wie der Raub des Babys: Lemps Nachbarin ist Inga Werner. Derweil ist die polizeiliche Suche nach der „verschwundenen“ Lucy in vollem Gange. Die junge Mutter ist sich sicher, dass ihr Ex, Chris Novak (Max Hemmersdorfer), ihre Tochter gekidnappt habe: der würde sie seit Wochen belästigen, ja sogar in ihre Wohnung sei er eingebrochen. Der Beschuldigte erzählt eine ähnliche Geschichte, doch in seiner Version ist Lana die Stalkerin. So sehr Novak auch die Wirklichkeit verzerrt, so könnte er zum Schlüssel werden in einem Fall, der für Brasch mit den üblichen Methoden kaum zu lösen sein wird.

Polizeiruf 110 – Du gehörst mirFoto: MDR / Felix Abraham
Top-Exposition. Früh treffen sich die Blicke der beiden Mütter: die Zerrissene, Inga Werner (Franziska Hartmann), Lana (Hannah Schiller), das spätere Häuflein Emotion

Das titelgebende „Du gehörst mir“ des achtzehnten „Polizeiruf 110“ aus Magdeburg betrifft gleichermaßen den A- wie den B-Plot. Da ist die falsche Mutter, die die Ratschläge von Lemp, der ihr ins Gewissen redet, zu überhören scheint. Und da ist Novak, der überzeugt ist, dass die Einforderung seiner Besitzansprüche ganz in Lanas Sinne seien. Zwei in ihrer Wahrnehmung massiv gestörte Menschen, dazu eine verunsicherte junge Mutter, ein schwer malträtierter Kommissar und eine Ermittlerin, die wenig zu tun bekommt. Dass es sich bei der Geschichte von Autorin Khyana el Bitar („Dead Man Working“) und Regisseur Jens Wischnewski („Neuland“) nicht um einen gewöhnlichen Krimi, sondern um ein vielschichtiges Drama handelt, macht bereits die starke, dramaturgisch dicht und filmisch flüssig erzählte Exposition deutlich: Alle fünf Hauptfiguren sind im Spiel, die drei Episoden-Charaktere begegnen dem Zuschauer bereits in der Eröffnungssequenz, der Grundkonflikt ist wenig später gelegt, Widersprüche ergeben sich, Zufälle haben System, die Ironie des Schicksals meldet sich. Und so sind auch ohne Jagd nach einem Mörder die Weichen für packende 90 Minuten gestellt.

Die Triebkräfte der Geschichte sind der große Schmerz, der zu Übersprungshandlungen und Gewalt führt, und die tiefsitzende Verzweiflung, die sich pathologisch auslebt. Die Narration hält sich nicht lange mit Dramaturgie, mit künstlichen Gegensätzen und dem Schubladen-Denken typischer Ermittlerkrimis auf. Das beliebte Gute-Mutter-schlechte-Mutter-Thema wird beispielsweise nur kurz gestreift. Evidenter in diesem Film ist das Sichtbare: Die Geschichte wird in Bildern erzählt; die Worte sind hingegen angenehm sparsames Beiwerk und größtenteils den seelischen Ausnahmesituationen geschuldet, wenn sie nicht Signalfunktion besitzen. „Was ist denn mit den blonden Haaren passiert?“, fragt Lemp lächelnd, wenig später knallt der Hockeyschläger auf seine Knochen. Durch die kluge Erzählkonstruktion und die Beredtheit der Bilder weiß man als Zuschauer mehr als die Figuren, und man beginnt zu spekulieren, wie die Geschichten dieser durchgeknallten Drei – alle mehr oder weniger narzisstisch gestört – miteinander verwoben sein könnten. Und gleichzeitig stellt sich die Frage, ob wohl alle unbeschadet aus dieser Krise herauskommen werden.

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Brasch (Claudia Michelsen) hat nicht viel zu ermitteln. Am Ende bleibt nicht viel mehr als ein emotionaler Appell an die Entführerin im Fernsehen. Hannah Schiller

Wir sehen eine Frau, die zu Gewaltausbrüchen neigt und zugleich eine sensible „Mutter“ ist. Diese Mittdreißigerin empfindet durchaus Scham darüber, was sie ihrem liebenswürdigen Nachbarn antut. Sie befürchtet sogar, dass ihre Menschlichkeit und Empathie ihren Fluchtplan – Ziel Finnland – ins Wanken bringen könnten („Ich schieb Sie doch zurück in die Kammer“). Franziska Hartmann setzt mit Inga Werner, dieser netten Frau von nebenan, ihre sehr markanten Hauptrollen der letzten Jahre, von „Sterne über uns“ über „Kalt“ und „Was wir verbergen“ bis zur Top-Mini-Serie „Neuland“, die ihr den Grimme-Preis einbrachte, eindrucksvoll fort: Verstecken viele ihrer bisherigen Figuren ihre Unsicherheit hinter Bodenständigkeit, Pragmatismus und Härte gegen sich selbst, zeigt Hartmanns Figur in diesem „Polizeiruf“ von Anfang an deutlich ihre Schwächen. Sie ist eine zerrissene Person. Das Trauma behält zwar die Oberhand gegenüber der Moral, aber immer wieder kommen ihr Gewissensbisse. So wird für Lemp die Gefangenschaft zu einem Wechselbad der Gefühle: Immer wieder gibt sich seine ihn fesselnde und knebelnde Kidnapperin auch als umsichtige Gastgeberin, die ihm Schmerzmittel besorgt, ihn beköstigt und darüber sogar ins Reden kommt. Eine der vielen Stärken von „Du gehörst mir“ ist es, dass der Film spannend bleibt, auch ohne diese Figur mit krimineller Energie zu einer echten Kriminellen zu machen. Auch als „guter“ Mensch bleibt sie unberechenbar genug für einen aufregenden Handlungsverlauf.

Die Täterin weckt Mitgefühl, doch natürlich tut einem auch der verständnisvolle Lemp leid (wer den TV-Krimi-Kodex nicht kennt sorgt sich möglicherweise auch um das Baby): Die Szenen mit Inga Werner und Lemp, die in ein realistisch-stimmungsvolles Zwielicht getaucht sind, in dem erkennbar wird, dass die Altbauwohnung mit den hohen Decken und weitgehend zugehangenen Fenstern schöner ist als das, was die psychisch angeschlagene Werner aus ihr macht, sind das Herzstück des Films. Diese Szenen leben von der ambivalenten Charakter-Spannung. Der Raum, in dem Lemp liegt, war das Zimmer von Werners pflegebedürftiger Mutter. Pflegebett, Rollstuhl, Toilettenstuhl – das passt, schafft Kranken-Atmosphäre, bestätigt indirekt aber auch, dass diese Frau bisher sehr umgänglich gewesen sein muss, wenn sie ihre unangenehme Mutter, die sie zwischendurch im Pflegeheim besucht, offenbar bis vor Kurzem gepflegt hat. Brasch hat in diesem „Polizeiruf“ wenig zu tun; sie kümmert sich um die beiden anderen „Pflegefälle“. Auch wenn die junge Mutter nicht immer die Wahrheit sagt, so steht die Kommissarin bald an ihrer Seite, während sie zu dem mutmaßlichen Stalker auf Distanz geht. Braschs Bauchgefühl scheint ihr wieder mal recht zu geben. (Text-Stand: 25.7.2023)

Polizeiruf 110 – Du gehörst mirFoto: MDR / Felix Abraham
In ihrer Wohnung ist Inga Werner (Franziska Hartmann) sicher. Sie ist eine geduldige, liebevolle Mutter. Sie ist traumatisiert, kein böser Mensch. Doch dann klingelt Lemp.

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Reihe

MDR

Mit Claudia Michelsen, Felix Vörtler, Franziska Hartmann, Hannah Schiller, Max Hemmersdorfer, Pablo Grant, Susana AbdulMajid, Susanne Häusler, Safinaz Sattar

Kamera: Jakob Wiessner

Szenenbild: Frank Polosek

Kostüm: Manuela Nierzwicki

Schnitt: Falk Peplinski

Musik: Peter Thomas Gromer

Soundtrack: Little Simz („Venom“), David Bowie („Space Oddity“)

Redaktion: Denise Langenhahn, Johanna Kraus

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Iris Kiefer

Drehbuch: Khyana el Bitar

Regie: Jens Wischnewski

Quote: 7,64 Mio. Zuschauer (27,7% MA)

EA: 27.08.2023 20:15 Uhr | ARD

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