Polizeiruf 110 – Der Verurteilte

Michelsen, Gersak, Tonke, Braren, Bertele. Grimme-Preisträger erfüllen Erwartungen

Foto: MDR / Stefan Erhard
Foto Rainer Tittelbach

Ein Verdächtiger schweigt, flucht, rastet aus – und gesteht in seiner Raserei nicht nur einen aktuellen Mord, sondern auch einen zweiten, dessen Fall erfolgreich abgeschlossen wurde. Wenig später widerruft er. Daraus ergibt sich für Kommissarin Brasch ein sehr persönlicher Fall, der für sie – zwischen Schuldgefühlen und Lebensgefahr – zu einer besonderen Tortur wird. Und für Claudia Michelsen, Produktionsfirma filmpool fiction und den MDR ist dieser „Polizeiruf 110“ mit dem Titel „Der Verurteilte“ der bisher beste Film des vor allem wegen seiner Hauptdarstellerin stets überzeugenden Reihenablegers aus Magdeburg. Jan Braren hat eine dramaturgisch klug abgespeckte Geschichte entworfen, die Brigitte Maria Bertele mit den ästhetischen Möglichkeiten des filmischen Erzählens atmosphärisch auflädt. Die klugen Vorgaben des Drehbuchs haben aber auch die Schauspieler gekonnt aufgenommen. Neben Michelsen brillieren in dieser hoch spannenden Schuld-und-Sühne-Geschichte, die aus einer konzentrierten, unaufgeregten Erzählung eine immer größere Sogkraft entwickelt, auch die beiden Episodenhauptdarsteller Sascha Gersak und Laura Tonke als Paar des Grauens.

Eine junge Frau ist verschwunden. Da bei der Krankenpflegerin Valerie Klein (Amy Benkenstein) zuhause eine kleine Tochter wartet, sind ihr Vater (Falk Rockstroh) und die befreundete Nachbarin (Hanna Hilsdorf) in großer Sorge. Der Vermisstenfall landet erst nach 36 Stunden bei Brasch (Claudia Michelsen) auf dem Schreibtisch. Offenbar auch nur, weil Assi Günther Márquez (Pablo Grant) die junge Frau aus seiner Schulzeit kennt. Das Blind-Date am Abend von Valeries Verschwinden kann rasch als Spur ausgeschlossen werden. Verdächtig macht sich dagegen Markus Wegner (Sascha Gersak), ein Gelegenheitsarbeiter, der die Scheune einer betreuenden Klientin der Vermissten gemietet hat. Valerie Klein wollte am Abend noch beim Haus der Verstorbenen vorbeifahren. Als Brasch Tage später dort auftaucht, findet sie eine Kette der Vermissten – und die Badewanne ist blutverschmiert. Später wird auch noch Valeries Wagen gefunden. In ihm werden Fasern eines Overalls von Wegner sichergestellt. Seine Frau Annegret (Laura Tonke) versucht zwar, ihn zu entlasten, aber die Indizien sprechen gegen den nicht sonderlich intelligenten Mann. Als Brasch bei einer Vernehmung Wegner in die Enge treibt, rastet dieser aus – und gesteht den Mord und einen zweiten, dessen Fall vor Jahren erfolgreich abgeschlossen wurde, gleich mit.

Polizeiruf 110 – Der VerurteilteFoto: MDR / Stefan Erhard
Die Kommissarin wird in einen Schuld-Sühne-Komplex hineingerissen. Brasch (Claudia Michelsen) muss ihrem Chef Lemp (Felix Vörtler) das Verhör überlassen. Laura Tonke

Für die eigenwillige Kommissarin ergibt sich daraus ein sehr persönlicher Fall, der für sie – zwischen Schuldgefühlen und Lebensgefahr – zu einer besonderen Tortur wird. Und für Hauptdarstellerin Claudia Michelsen, Produktionsfirma filmpool fiction und den MDR ist dieser „Polizeiruf 110“ mit dem Titel „Der Verurteilte“ der bisher beste Film des stets überzeugenden Reihenablegers aus Magdeburg. Nicht nur Brasch, auch Michelsen kann’s sehr gut auch allein. Das missbilligende bis feindselige Verhalten zwischen Kommissarin und ihren beiden gleichgestellten Kollegen, Drexler (Filme 1-5) und Köhler (6-11), war zwar gut für ein paar Beziehungsintermezzi am Rande, zumal Ausnahmeschauspieler wie Sylvester Groth und Matthias Matschke immer eine Bereicherung sind, aber diese Plänkeleien haben den Krimi oder das Drama dahinter nicht immer weitergebracht. Für den vierzehnten Film der Reihe hat nun Autor Jan Braren („Homevideo“ / „Tatort – Der Fall Holdt“) eine dramaturgisch klug abgespeckte Geschichte entworfen, ohne viel Personal und ohne Exkurse ins Privatleben der Kommissarin. Mit dem reduzierten Plot gelingt dem Grimme-Preisträger die Grundlage für einen Krimi, der sachlich, unspektakulär, aber sehr konzentriert beginnt und aus seiner Unaufgeregtheit allmählich eine immer größere Sogkraft entwickelt – bis zu einem Schlussdrittel, das in puncto Spannung und emotionale Anteilnahme seinesgleichen sucht.

Polizeiruf 110 – Der VerurteilteFoto: MDR / Stefan Erhard
Ich werde geschlagen, also bin ich. Ein Paar des Grauens. Das Käfigmotiv findet in der Wohnung der beiden noch ein weiteres Bild. Sascha Gersak und Laura Tonke

Die außergewöhnliche Wirkung hat bis zu Braschs Höllentrip auf der Zielgeraden viel mit der Erzählweise zu tun. Die Narration in diesem „Polizeiruf“ ist kleinteilig und komprimiert, ohne dabei kurzatmig zu wirken. Im Gegenteil: Aus den zügig aufeinanderfolgenden Szenen entsteht ein (fast unmerklicher) Flow, auch ohne spektakuläre Ereignisse. Dabei wird häufig darauf verzichtet, eine Situation mit einer verbalen Vorankündigung vorzubereiten. Dadurch befindet man sich als Zuschauer stets in einer leichten Anspannung, einer gewissen Habacht-Haltung. Das mag nur ein Detail sein, ist aber ein wichtiger Baustein für die dichte Erzählung und den sich daraus für den Zuschauer ergebenden Spannungsfluss. Früher war das anders im Magdeburger „Polizeiruf“: Wenn sich Brasch nicht gerade mal wieder auf einem ihrer Alleingänge befand, wurde wegen der Animositäten im Team sehr klar gesagt, wer was zu tun habe. Um Bewegung in die Filme zu bekommen, braucht mal also keine motorradfahrende Kommissarin, sondern nur eine Einzelgängerin und ein gutes Gespür für Dramaturgie.

Die diesbezüglichen Vorgaben des Drehbuchs werden allerdings noch maßgeblich und eindrücklich von der Inszenierung forciert. Die Arbeit von Regisseurin Brigitte Maria Bertele und die wesentlichen Gewerke, Bildgestaltung und Montage, lassen in „Der Verurteilte“ einmal mehr erkennen, welche Bedeutung für einen Film die spezifischen ästhetischen Möglichkeiten des Mediums und die damit geschaffene Atmosphäre besitzen. Davon zeugt ein Schnitt, der jeder Szene die optimale Länge verpasst für den bereits erwähnten (unsichtbaren) magischen Flow. Ein Musterbeispiel für eine solche spannungssteigernde Atmosphäre ist die Sequenz, in der Brasch das Haus der verstorbenen alten Dame betritt und langsam durch die düsteren, markant erzählten Räume schleicht: Das ist keine künstliche Spannungsmache, vielmehr entspricht die Erzählperspektive der subjektiven Befindlichkeit der Heldin, wodurch sie den Zuschauer dadurch umso stärker in das Geschehen hineinzieht. Selbst das Schreckliche am Ende dieser Szene ist wohldosiert: So wird ein mögliches Blutbad in der Badewanne nur kurz angedeutet. Weniger zimperlich ist Bertele am Ende des Films, da aber, auf dem Höhepunkt der Handlung, wenn Braschs Schuld in ein Sühne-und-Rache-Szenario umschlägt, ist das Mehr an Blut und Brutalität Teil der Geschichte. Dass die Dialoge knapp und knackig sind und stärker Emotionen zum Ausdruck bringen als Informationen zu transportieren, diese Drehbuchvorlage nehmen die Regisseurin und die Schauspieler gleichermaßen gekonnt auf.

Polizeiruf 110 – Der VerurteilteFoto: MDR / Stefan Erhard
Anfangs wirkt Doreen Brasch (Claudia Michelsen) entspannter als früher. Selbst beim Verhör gibt es Momente, die sie kurzzeitig erheitern. Doch die Kommissarin fällt bald in ein tiefes Loch – und plötzlich sieht es bei ihr zu Hause aus wie bei den Wegners.

Ausnahmeschauspielerin Claudia Michelsen hat einen ihrer besten Filme (von über 100 Produktionen in 30 Jahren) mit Brigitte Maria Bertele gedreht: „Grenzgang“, die Verfilmung des Romans von Stephan Thome; 2014 gab es für beide dafür den begehrten Grimme-Preis. Dieser „Polizeiruf 110“ erzählt zwar dem Genre gemäß eine völlig andere Geschichte, ähnlich aber ist der Mut von Schauspielerin wie Regisseurin zur Auslassung: Da ist Michelsens hoch sensibles Spiel, bis in die kleinste Geste, in das leiseste Wort hinein, und da ist Berteles elliptische Filmsprache, die auf künstlerische Konzentration aus ist. Nicht zufällig heißt einer ihrer besten Filme: „Begierde – Mord im Zeichen des Zen“ (2015). Aber auch die beiden Episodenhauptdarsteller treffen die Tonlage gleichermaßen, sprechen ästhetisch dieselbe Sprache – auch wenn die Charaktere aus einer grausamen Parallelwelt kommen, in der (Selbst-)Hass und Wut, Abhängigkeit und Selbsterniedrigung krankhafte Blüten treibt.

Da ist Sascha (Alexander) Gersak („7 Jahre Leben“, „Tore tanzt“), einer, der seit Jahren aus seinen vornehmlich harten Kerls stets beeindruckende Charaktere formt. 2018 verkörperte er die tickende Zeitbombe Hans-Jürgen Rösner preiswürdig im Dokudrama „Gladbeck“. In „Der Verurteilte“ ist er ein Urviech, unsicher, jähzornig, unberechenbar. Ein hibbeliger Sadist („Da scheiß ich drauf von hier bis Meppen“), dem alles zu kompliziert wird („Alles beschissener Quatsch“). An seiner Seite eine Frau, die sich widerstandslos verprügeln lässt. Laura Tonke hat sich mit zunehmendem Alter von ihrem Hübschchen-Image befreit, obwohl sie auch immer schon in harten Dramen wie „Ostkreuz“ (1991 mit 17), „Baader“ oder „Farland“ überzeugen könnte. Nach „Hedi Schneider steckt fest“ bekommt sie nun die Beachtung, die sie verdient – und die richtigen Rollen. Und so spielte sie in zwei der besten Fernsehfilme der letzten Jahre: „Bist du glücklich?“ (2019) und „Totgeschwiegen“ (2020, u.a. mit Michelsen). In „Der Verurteilte“ sind ihre Sätze an einer Hand abzuzählen. Ihr stummes Spiel ist entsprechend vieldeutig und erschreckend gut. Auch Maske und Kostüm sind beeindruckend. Man glaubt, eine Spur Charlize Theron aus „Monster“ zu erkennen. (Text-Stand: 1.12.2020)

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Reihe

MDR

Mit Claudia Michelsen, Sascha Gersak, Laura Tonke, Felix Vörtler, Pablo Grant, Hanna Hilsdorf, Falk Rockstroh, Amy Benkenstein, Niels Bormann, Anna König

Kamera: Jana Lämmerer

Szenenbild: Marcel Beranek

Kostüm: Manuela Nierzwicki, Petra Fichtner

Schnitt: Julia Oehring

Musik: Sven Rossenbach. Florian van Volxem

Redaktion: Johanna Kraus

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Iris Kiefer

Drehbuch: Jan Braren

Regie: Brigitte Maria Bertele

Quote: 8,21 Mio. Zuschauer (24,4% MA)

EA: 27.12.2020 20:15 Uhr | ARD

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