Ronny (Johann Barnstorf) muss seinen zehnten Geburtstag im Kinderheim feiern, da seine Mutter Sabine Hartwig (Ceci Chuh) noch nicht gefestigt genug ist, wieder das Sorgerecht für ihn zu erhalten. Die Heimleiterin Gaby Kleinschmidt (Maja Schöne) und Ronnys Lieblingserzieher Matthias Precht (Thomas Schubert) versuchen so gut es geht, die fehlende Mutter zu ersetzen. Nach der Feier im Heim mit Geburtstagsständchen und reichlich Geschenken macht sich Ronny mit seinem neuen Fahrrad auf zu seiner Mutter. Die lebt mit einem neuen Mann (Oskar Bökelmann) zusammen, der wenig Verständnis für den aufgeweckten Jungen zeigt. Die Situation ist angespannt und eskaliert. Wenig später ist Ronny verschwunden, und Kommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen) schaltet sich in die Suche ein. Bei ihrer ersten Befragung von Sabine Hartwig verstrickt sich diese in widersprüchliche Aussagen, möglicherweise, um von der heftigen Auseinandersetzung zwischen ihrem Sohn und ihrem Freund abzulenken. Eine Videonachricht von Ronny liefert weitere Anhaltspunkte. Wollte er tatsächlich allein mit dem Fahrrad zum Angeln? Hat er das Motorboot des Heims genommen? Gordon (Valentin Oppermann), der Teenagersohn der Heimleiterin, hat ihn bei seinem „Ausflug“ getroffen und er bestätigt, dass der leicht blutverschmierte Ronny zum Angeln fahren wollte. Vielleicht ist der Junge ja ins Wasser gefallen? Nachts ist es frostig. So oder so, die Überlebenschance ist eher gering.
Drei Frauen, allesamt Mütter, bestimmen den Ton der siebzehnten „Polizeiruf“-Episode aus Magdeburg. „Ronny“ ist für Regisseurin Barbara Ott „ein Film über die Liebe zu unseren Kindern – über die Angst, dass ihnen etwas zustößt, dass sie uns abhandenkommen, sie sich entfremden, uns entgleiten oder sogar verschwinden können.“ Die Mutter des kleinen Ronny bangt um sein Leben und entwickelt eine unbändige Wut auf alle, die verdächtig werden, auch auf ihren neuen Partner, dem sie nicht trauen kann, sogar auf die, die sich um ihren Jungen gekümmert haben, und nicht zuletzt richtet sich ihre Wut auch gegen sich selbst. Auch die Heimleiterin ist Mutter, alleinerziehend, und so gut sie auch ihren Job im Griff zu haben scheint, so kläglich scheitert die Kommunikation mit ihrem eigenen Sohn, der nach seinem Bild als Mann sucht und der sich ihr gegenüber immer abweisender und aggressiver verhält („Du blödes Arschloch, Mann, leck mich doch“). Und auch bei der Kommissarin setzt dieser Fall schmerzliche Erinnerungen frei. Schon einmal bekamen sie und ihr Chef Uwe Lemp (Felix Vörtler) es mit einem vermissten Kind zu tun. Beide haben damals Fehler gemacht; der Junge konnte nicht gerettet werden. Es ist aber nicht nur dieses Schuldgefühl, sondern auch ein tiefer Schmerz, der in Brasch vergraben ist und ihre eigene Rolle als Mutter betrifft: So hat sie zu ihrem Sohn, der auf die schiefe Bahn geraten ist, was in den ersten zwei Filmen „Der verlorene Sohn“ und „Abwärts“ thematisiert wurde, keinen Kontakt mehr.
Drehbuchautor Jan Braren (Grimme-Preis für „Homevideo“) setzt nicht auf die hierzulande übliche Projektionsdramaturgie, die diese drei Schicksale bedeutsam oder gar bedeutungsschwer aufeinander bezieht, sondern gibt jeder der drei Frauen ihre individuelle Geschichte. Alle drei sind Mütter, aber eben auch drei Frauen mit völlig unterschiedlichen Biographien. Beziehungs- und gesellschaftskritisch relevant ist dieser „Polizeiruf“ auch ohne pädagogischen Impetus und ohne eindeutige Botschaft. Und „Ronny“ ist ein Krimi-Drama, das seinem Genre alle Ehre macht. Alle in den Fall involvierten Charaktere führen ein Eigenleben, immer wieder begegnen sie sich untereinander. Ihre kleinen Interaktions-Dramen führen dazu, dass immer wieder neue Verdachtsmomente auftauchen, die der Kommissarin zugespielt werden. Doreen Brasch befragt und vernimmt zwar Zeugen und Verdächtige, aber ihre Arbeit entzieht sich der üblichen Ermittlerinnen-Routine. Diese kluge Interdependenz zwischen der Kommissarin und den Episodenfiguren ist der Motor der Handlung.
Und dass dieser Motor wie geschmiert läuft, das liegt an einem Ensemble, das perfekt zusammengestellt wurde und bei dem jede(r) Einzelne absolut überzeugt. Das beginnt bei Johann Barnstorf (stark bereits in „Kalt“) als vom Geburtstag euphorisierter Ronny, über Ceci Chuh („Von Mädchen und Pferden“) als zornige junge Mutter und Valentin Oppermann (eine Hauptrolle in DER Drama-Serie 2022, „Safe“) als seltsam indifferenter Teenager bis hin zu Thomas Schubert (Hauptrolle in DER Komödienserie 2022, „King of Stonks“) als seltsamer Erzieher. Die Qualitäten von Maja Schöne („Neu in unserer Familie“) sind bekannt, die von Grimme-Preisträgerin Claudia Michelsen ebenfalls, aber in diesem „Polizeiruf“ toppt sie ihre bisherigen Leistungen als sensible Befragungs- und Verhör-Spezialistin. So emotional angefasst, ungehalten und entschlossen haben wir Doreen Brasch nicht immer gesehen. Zuletzt war sie neben der Spur. In „Ronny“ scheint nicht nur Felix Vörtlers Lemp an Schlaflosigkeit zu leiden. Auch Brasch sieht müde aus. Ihr Schmerz quillt aus jeder Pore.
Um welche Themen sich die Handlung dreht, soll noch nicht verraten werden; die Lust könnte beim Sehen dadurch geschmälert werden. Die Seh-Lust aber, die dieser Film dem ästhetisch sensiblen Auge gönnt, darf, ja muss Gegenstand dieser Kritik sein: denn das, was Regisseurin Barbara Ott aus dem ausgezeichneten Drehbuch macht, ist Erzählfernsehen allererster Güte. Es ist nicht der Dialog, der den Zuschauer leitet, es sind die Bilder, die Icons (Messer, Fahrrad, Boot), die visuellen Vorausdeutungen, aus denen sich ein sinnlich-sinnhafter Erzählfluss ergibt und die nie bedeutungsvoll ausgestellt wirken. Einmal beispielsweise wird der Freund von Ronnys Mutter von Brasch befragt, im Hintergrund die Fabrik, in der er arbeitet, wodurch der Zuschauer sofort eine Ahnung davon bekommt, wie die (Arbeits-)Realität dieses Mannes aussieht. Ein völlig anderes Bild: Ronny in der ersten Einstellung des Films, 70 Sekunden lang sieht man, wie er versucht, Smartphone-Kontakt mit seiner Mutter aufzunehmen, groß und doch beiläufig gefilmt durch das Gitter(!) seines Bettes. Zur Halbzeit: ein dramatischer Höhepunkt, hochintensiv dank seiner realistischen Darstellung. Die drei Frauen im Flur des Kinderheims. Die eine tobt, die andere versucht, sie zu beruhigen, die dritte greift energisch ein. Gegen Ende gibt es eine weitere Dreierkonstellation. Warten in einem anderen Flur: die Mutter auf dem Boden sitzend, niedergeschmettert, Brasch daneben, vornübergebeugt, auch sie schwer mitgenommen, zwischen beiden Lemp, berührt, aber männlich standhaft.
Bei „Ronny“ ist das stimmungsvolle Zusammenspiel von Körpersprache (den Begriff verwenden seltsamerweise häufiger Fußballreporter als Fernsehkritiker) und Filmsprache ein besonderes Qualitätsmerkmal. Einige Male möchte man als Zuschauer „Standbild!“ rufen. Auch sonst ist hier alles das zu sehen, was sehr gutes Fernsehen von mittelmäßigem unterscheidet: Blicke, die erzählen; eine Kamera, die sucht, die sich an die Szenerie herantastet, die den Figuren folgt; kurze Einstellungen, die sich semantisch (noch) nicht erklären lassen, die aber toll aussehen. Und immer wieder kehrt einer in der Interaktion dem anderen den Rücken zu. Der Kommunikations-Stil ist schroff, Gespräche kommen selten zustande. Und wenn doch, dann reden und agieren in diesem „Polizeiruf 110“ aus Magdeburg alle so, wie man eben redet im ganz normalen Leben. „Nur in Filmen reden Menschen ohne Punkt und Komma, sprechen in grammatikalisch korrektem Schriftdeutsch, erklären sich Dinge, die sie eigentlich längst voneinander wissen müssten, klingen dabei alle gleich und unterbrechen sich niemals“, so Braren. Er macht es anders. Die Zunft kann von ihm lernen.