„Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin, denn dick sein ist ’ne Quälerei“: Ein Lied wie „Dicke“ (1978) würde Marius Müller-Westernhagen heute vermutlich nicht mehr schreiben. Im Zeitalter von „Body Positivity“ sind Spottverse wie „Dicke haben schrecklich dicke Beine, Dicke ham ’n Doppelkinn“ verpönt. Das Problem ist damit natürlich nicht aus der Welt: Seit damals ist die Anzahl der korpulenten Deutschen erheblich gestiegen; laut Adipositas-Gesellschaft sind zwei Drittel der Männer und über die Hälfte der Frauen übergewichtig. Gleichzeitig leiden immer mehr Teenager unter Magersucht, und das gilt keineswegs nur für Mädchen. Kann das Stoff für eine Romanze sein?
„Was wiegt die Liebe?“, hieß dieser Film, als er noch ein Drehbuch war. Sophia Krapoth, Autorin diverser Tragikomödien, aber auch des „MeToo“-Krimidramas „So laut du kannst“ mit Friederike Becht (2022), hat ihre Geschichte als Hommage an Hauptdarstellerin Stefanie Reinsperger konzipiert: Jenny Fromm, Mitinhaberin eines Online-Handels für Pflanzen, ist mit sich und ihrem Gewicht im Reinen. Ihre heile Welt gerät aus den Fugen, als sie nach einem Tanzunfall mit Meniskusschaden in die Reha muss und dort einem Fitness-Guru begegnet. Ihre beste Freundin Ricarda (Eva Bay) wird ganz wuschig, als sie Timo Neuwirth (Golo Euler) erblickt. Jenny geht das Getue rund um den prominenten Influencer, der im Gegensatz zu ihr beim Essen sämtliche leckeren Zutaten weglässt, gehörig auf den Keks. Sie hält den Mann für einen Schnösel, zumal er alles repräsentiert, was sie ablehnt; in ihren Augen sind Männer wie er schuld daran, dass jetzt auch Jungs Essstörungen haben.
Foto: ZDF / Christiane Pausch
Aus irgendeinem Grund, den der Film gar nicht erst zu erklären versucht, fühlt sich das ungleiche Paar unwiderstehlich zueinander hingezogen. Es kommt zu einem romantischen Kuss im warmen Sommerregen, aber dann bricht Timo die Reha gegen den Rat des Arztes ab, weil er zu Werbeaufnahmen muss. Sein Knie ist hinüber, er hält sich nur noch mit Spritzen und Morphintabletten auf den Beinen, doch das darf seine Gefolgschaft natürlich nie erfahren. Mit der Abreise ist die Liebesgeschichte schon wieder vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hat, aber Jenny geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, und so lässt sie sich, zurück in Hamburg, auf eine Beziehung ein, die im Grunde zum Scheitern verurteilt ist; erst recht, als in den digitalen Medien ein Foto kursiert, das das Paar beim Kuss zeigt. Prompt drohen die widerwärtigen Kommentare all’ das zu zerstören, was sich Jenny an Selbstwertgefühl aufgebaut hat. Den Rest besorgt Timos Managerin (Pheline Roggan), die ihm mit ihrer unfreiwilligen Hilfe eine neue Zielgruppe erschließen will.
Jenseits der Romanze ist „Liebesbrief an Jenny“ natürlich auch ein Film mit Botschaft. Dafür steht nicht zuletzt der Titel, dessen zutiefst berührende Bedeutung sich erst kurz vor Schluss offenbart. Die entsprechende Szene ist der Abschluss eines Klassenprojekts: Ricarda hat die Freundin um Hilfe gebeten, weil sich ihre Tochter Polly (Josefine Keller) für hässlich hält. Also kommt Jenny regelmäßig in die Schule, um Polly und den anderen Teenagern beizubringen, den eigenen Körper zu akzeptieren und zu lieben. Dabei gibt sie auch eine Menge von sich preis. Ans Eingemachte geht’s aber erst gegen Ende, als sie erkennt, dass eine Beziehung mit Timo nicht möglich ist, und sie ihm von ihrer Mutter erzählt, der sie „nie genug und trotzdem immer zu viel“ gewesen sei.
Stefanie Reinsperger ist eine famose Besetzung für die Titelrolle dieser „Notting Hill“-Variation. Das Thema dürfte ihr auch ein persönliches Anliegen sein. Dass sie selbst eine positive Beziehung zu ihrem Körper hat, lassen die zwar diskret gefilmten, aber spärlich bekleideten Liebesszenen erahnen. Golo Euler wiederum hat offenkundig viel Zeit in seinen Körper investiert, ist jedoch nicht nur deshalb gleichfalls sehenswert. Das gilt auch für die Umsetzung durch Regisseurin Christina Adler (Kamera: Martin Langer), selbst wenn erwartbar war, dass Timos Wohnung teuer, aber kühl und unpersönlich wirkt, während es bei Jenny dank Licht und Szenenbild ungemein behaglich ist. Ein großes Vergnügen sind kleine Gestaltungsideen wie jene, als Adler gegen Ende anhand eines Gingko-Sämlings illustriert, wie die Jahreszeiten verstreichen. Da es im Zentrum der Handlung eher ernst zugeht, sorgen die Nebenfiguren für Heiterkeit, allen voran Timos vietnamesische Haushälterin (Mai-Phuong Kollath) mit ihren witzigen untertitelten Kommentaren. Krapoths Drehbuch erfreut ohnehin immer wieder durch überraschende Wendungen; der Epilog setzt in dieser Hinsicht einen würdigen Schlusspunkt.
Foto: ZDF / Christiane Pausch

