Eine Anklageschrift trifft Anton (Levy Rico Arcos) völlig unvorbereitet. Es handelt sich dabei um ein Vergehen von vor zwei Jahren, 1. Mai 2021. Zur Last gelegt werden dem jungen Mann „schwerer Landfriedensbruch“ und „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. Er hat die Ereignisse so gut wie vergessen. Seitdem ist viel in seinem Leben passiert. Direkt nach Corona ist er damals von Zuhause ausgezogen. Seine Eltern (Petra Schmidt-Schaller, Alexander Hörbe) hatten sich zuvor getrennt und Anton sein Abi geschmissen. Mittlerweile hat er sich gefangen, lebt mit seiner Freundin Rosa (Jamilah Bagdach) einfach, aber romantisch in einer Laube, und er hat einen Ausbildungsplatz als Koch gefunden. Und jetzt das! Die Anklage verunsichert den Jungen. Der Mann von der Jugendgerichtshilfe (Andreas Anke) macht ihm wenig Hoffnung auf eine gütliche Einigung vor Gericht. Und ob seine Anwältin (Luise Helm) die richtige ist, bezweifelt Anton schwer. Doch das Schlimmste ist für ihn: Er kann sich an nichts erinnern, er wollte feiern, war mit seiner Clique unterwegs, war betrunken – das ist alles, was er noch weiß. Um auf die Anklageschrift reagieren zu können, bei der sich die Polizeibeamten abgesprochen haben, muss Anton die Ereignisse rekonstruieren, muss versuchen, sich zu erinnern. Das wird schmerzhaft werden. Nicht umsonst hat er diese Nacht verdrängt.
„Im Film sehen wir einen Beamten auf den festgenommenen Anton einschlagen, da wird ganz klar gemacht, okay, hier, spätestens hier haben wir eine Gewaltanwendung, die wirklich ganz klar rechtswidrig ist. Aber was ist eigentlich mit dem ganzen Vorgang davor? Mir gefällt an dem Film die realistische Darstellung, dass auch der Betroffene selbst einen gewissen Anteil an einer Eskalation hat. Aber die entscheidende Frage lautet, wie reagiert man darauf? Wie wird die Verhältnismäßigkeit bewertet, von der Polizei, aber auch von der Justiz?“ (Laila Abdul-Rahman, Koautorin der 2023 erschienenen Studie „Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung“)
Foto: WDR / Julia Terjung
Der Fernsehfilm „Polizei“ erzählt von einem jungen Mann, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Das Ereignis hat ihn so schwer traumatisiert, dass sein Gehirn die Erinnerungen eingefroren hat. So wie es Justizirrtümer gibt, wie Ärzten Kunstfehler unterlaufen können, so gibt es auch Fälle von polizeilicher Willkür. Das jeweilige System hält dicht. In Antons Anklageschrift finden sich bei verschiedenen Zeugen die immergleichen Textbausteine. Laila Stieler geht es in ihrem Drehbuch nicht darum, einen typischen Fall von Polizeigewalt aufzurollen, es geht ihr auch nicht um die Dramaturgie einer juristischen Auseinandersetzung, so findet beispielsweise am Ende das Gerichtsverfahren im Off statt. Der vielfach preisgekrönten Autorin geht es vielmehr um die Auswirkung, die ein solches Fehlverhalten auf das Opfer haben kann, einen sensiblen und etwas naiven jungen Mann, der möglicherweise zu gut(mütig) ist für diese Welt. Eine Stärke der Geschichte besteht in dieser konsequent durchgehaltenen subjektiven Perspektive. Keine verwässernde Relativierung. Kein Wegrationalisieren der seelischen Wunden. Das macht dieser Anton ja schon oft genug selbst. Immer wieder macht er sich klein, schwankt zwischen „Ich hab‘ nichts falsch gemacht“ und „Ich hab’s verkackt“. Als ihm seine Ex-Freundin (Katharina Hirschberg) von dem Abend erzählt („wie die dich umgeworfen und sich auf dich gekniet haben“), übernimmt er fast den Gegenpart. Er kann nicht glauben, was ihm passiert ist.
Bei einer Hilfsorganisation für (kurzzeitig) Inhaftierte erfährt Anton mehr. Er erinnert sich an Merle (Antonia Breidenbach), mit der er an der Gefangenensammelstelle der Polizei nach seiner Entlassung kurz Kontakt hatte. Jetzt klärt sie den politisch eher unbedarften Anton über bestimmte Polizeipraktiken bei linken Demonstrationen auf. Beide finden auch Videomaterial von jener Nacht und stoßen dabei auf Anton. Auf den Bildern ist wenig Justiziables zu sehen, sie lösen allerdings etwas in ihm aus. Er weiß jetzt: Er hat keine Flasche, sondern einen Plastikbecher geworfen. Hatten ihn zuvor die Zweifel an seiner Unschuld belastet, so lässt ihn nun die zunehmende Gewissheit verzweifeln, dass er ein „Opfer“ ist, ohnmächtig dem „System“ ausgeliefert. Überfielen ihn mit den ersten Erinnerungsfetzen Panikattacken, so ist es jetzt nackte Wut, die ihn packt. Er fühlt sich gedemütigt, ist enttäuscht von der Welt, hat mächtig Brass auf dieses kaputte Berlin. „Wie soll man hier leben? Wie soll man überhaupt leben?“, fragt er sich und seine geliebten Forellen im Schrebergarten. Gerade einer wie er, der es allen recht machen will, seinen Eltern, seinem Ausbilder, seinen Freunden, der Obdachlose unterstützt, der also ganz bewusst „ein Guter“ sein will, ist besonders enttäuscht, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Seine Mutter hat ihn in jener Nacht im Stich gelassen, sein Kumpel Jonas (Florian Geißelmann) will für ihn keine Zeugenaussage machen und jetzt ist auch noch sein Glauben an die Gerechtigkeit und in den Staat erschüttert, sein Misstrauen nachhaltig geweckt.
Foto: NDR / Julia Terjung
Buket Alakuş („Eine Braut kommt selten allein“) hat „Polizei“ kongenial inszeniert. Ausschnitthaft wird die Lebenssituation von Anton in wenigen, knappen Szenen präzise gezeichnet. Jede Begegnung, ob beispielsweise der erste Besuch bei seiner Mutter, die Termine mit seiner Anwältin oder das Wiedersehen mit Jonas, steckt voller Untertöne und Subtexte. Hautnah taumelt man als Betrachter mit Levy Rico Arcos („Sonne und Beton“) als Anton durch die Straßen von Berlin. Man spürt den rauen Wind in der Stadt, aber auch die zunehmende Sorge der Eltern um ihren Sohn, vor allem aber spürt man den Kampf der Hauptfigur, mit sich und ihrer Vergangenheit, den Konflikt zwischen dem Wunsch nach Verdrängung und der Notwendigkeit, die Wahrheit aufzuarbeiten. Die Wucht der imaginierten Bilder von damals nimmt zu, gleichsam gespiegelt in Arcos‘ Mimik und Körpersprache. Anfangs ist es die innere Anspannung, die hinter seiner Gesichtsrötung steckt, die Unsicherheit, was ihn erwartet. Später sind es Angstschweiß und Wut, die sich auf seinem Gesicht zeigen. Am Ende scheint Anton seine Balance wieder einigermaßen gefunden zu haben. Arcos spielt ihn Drama-gerecht realistisch – sprich: emotional sparsam und offen. Das gilt für das gesamte Ensemble. Da drängt sich niemand in den Vordergrund, außer vielleicht Florian Geißelmann („Tatort – Siebenschläfer“), das allerdings grandios, als quirliger Chaot und Pendant zum introvertierten Anton. Für die Art des Spiels, die Kommunikation, gilt ebenso wie für die Charaktere, deren soziale Verortung, für Dialoge, Kamera, Szenenbild oder Schnitt: Alles ist so alltagsnah wie möglich. „Polizei“ ist also ein Drama, wie man es sich (wieder) öfter auf dem zuletzt verwaisten ARD-Mittwochsfilm-Termin wünschen würde.
Bleibt die Frage: weshalb dieser Filmtitel? Aus der Perspektive der Zuschauer:innen mag „Polizei“ unpassend wirken, gibt es ja keinen einzigen Vertreter dieser Berufsgruppe im Film. Für die Hauptfigur sieht die Sache anders aus: Ihr Trauma wurde ausgelöst von jenem Polizei-Einsatz, und das zunächst noch schlimmere Erwachen aus ihm kreist um jenes Ereignis. Für Anton gibt es kein konkretes Gegenüber. Für ihn ist also die staatliche Institution Polizei verantwortlich, bei der es einen Fehler im System gegeben hat. Außerdem dürfte „Polizei“ einen größeren Einschaltimpuls beim Zuschauer auslösen als jeder andere mögliche Titel. Und „Polizei“ korrespondiert zugleich mit Andreas Dresens preisgekröntem Ausnahme-Drama „Die Polizistin“ (WDR, 2000), zu dem ebenfalls Laila Stieler das Drehbuch schrieb und der über das System Polizei nicht minder sensibel und empathisch aus der Sicht einer jungen Streifenpolizistin erzählte.

