Der Schuster Julius Kraus (Josef Hader) hält sich am liebsten raus. Nach dem Begräbnis des alten Bürgermeisters geht er allein nach Haus, während die Prozession der Trauernden zielstrebig ins Wirtshaus steuert. Er redet nur das Nötigste, und wenn er auf Politik und die Obrigkeit angesprochen wird, benutzt er gerne eine kuriose, verächtliche Wortschöpfung: „A-bopa – immer derselbe Schwindel“. Wie bei der Oskar Maria Graf Gesellschaft nachzulesen ist, geht der Begriff „A-bopa“ zurück „auf die phonetische Umschrift von französisch Embonpoint, das ist der Schmerbauch, die Leibesfülle – ein seit Grafs Jugend verhasstes Attribut von Amtspersonen“. Der „Schuaster“, wie er von jedem im Dorf angesprochen wird, wirkt nur auf den ersten Blick wie ein unfreundlicher Grantler. Hader geht leicht gebeugt, verzieht selten das Gesicht, aber versteht es dennoch, Wärme, freundschaftliche und väterliche Gefühle auszudrücken. Mit Elies Heingeiger (Verena Altenberger), der Tochter des Nachbarn Silvan Heingeiger (Sigi Zimmerschied), verbindet ihn eine platonisch-innige Beziehung. Elies hilft ihm im Haushalt, dafür kümmert sich der Schuster um Peter (Max Jung), ihren unehelichen Bub.
Foto: ZDF / Mathias Bothor
Wie Hass und Gewalt das gesellschaftliche Miteinander vergiften, ist leider eine ziemlich aktuelle Fragestellung. Die deutsche Geschichte bietet dazu bekanntlich einigen Anschauungsunterricht, wobei historische Dramen häufig in Berlin oder jedenfalls in urbanen Lebensräumen angesiedelt sind. Eine dank seiner eigenen Biographie kenntnisreiche Ausnahme lieferte der 1894 im Landkreis Starnberg geborene und 1934 von den Nazis ausgebürgerte Schriftsteller Oskar Maria Graf. Im Roman „Unruhe um einen Friedfertigen“ beschrieb er das Erstarken des Nationalsozialismus in Deutschland aus der seltenen Perspektive eines bayerischen Dorfes. Dass nun ein waschechter „Preiß“ wie Matti Geschonneck den „Ur-Bayer“ Graf verfilmt, muss man wirklich nicht befremdlich finden. Im Gegenteil: Der 1952 in Potsdam geborene Regisseur, der sich schon in mehreren Filmen mit der NS-Zeit beschäftigte, zuletzt etwa im preisgekrönten Fernsehfilm „Wannseekonferenz“, beweist hier einiges Fingerspitzengefühl im Umgang mit der bayerischen Kultur und Lebensweise. Klares Hochdeutsch spricht in „Sturm kommt auf“ eigentlich nur der Prior des Klosters, den Matthias Bundschuh überzeugend als klebrigen Menschen- und Spendenfänger spielt. Ob die Mundart im fiktiven Ort Lohfing durchgehend korrekt getroffen ist, entzieht sich der Kenntnis des im Rheinland aufgewachsenen Autors dieser Rezension. Nicht-Bayern sind jedenfalls einigermaßen gefordert, sollten aber zumeist nicht überfordert sein, um den sprachgefärbten Dialogen zu folgen. Hier auf die Mundart zu verzichten, wäre auch wirklich ein Frevel gewesen.
Zwar streut Geschonneck ab und zu stimmungsvolle Landschaftsbilder ein (freilich aus dem Salzburger Land, wo „Sturm kommt auf“ gedreht wurde). Aber von sonniger, falscher Heimatfilm-Idylle hat der Zweiteiler so gar nichts. Vielmehr wird das Publikum bereits durch die A-cappella-Gesänge des Frauenchors, die bayerische Frömmigkeit und Volkstümlichkeit ungekünstelt spüren lassen, gekonnt in die Zeit vor 100 Jahren versetzt. Zwischendurch sorgt Filmkomponist Boris Bojadzhiev mit wenigen eingestreuten Akkorden für eine ausgesprochen behutsame musikalische Begleitung. Der Kontrast zu bayerisch-scheppernder Wirtshaus-Romantik oder auch zum pathetischen Getöse mancher historischer Filmdramen könnte nicht größer sein. Die Ausstattung (Christoph Kanter) trägt ebenfalls ihren Teil zu dem rauen Zeitbild in schöner Landschaft bei. In den Stuben ist es schummrig-düster, über die unbefestigten Wege rumpeln Kutschen. Die Kostüme, die Inneneinrichtung und auch die kargen Mahlzeiten erzählen unaufdringlich vom einfachen, harten Leben der Landbevölkerung. Da hinein passen wie gemalt diese knorrigen Typen wie der Schuster Krause und sein Nachbar Silvan Heingeiger, gespielt vom Österreicher Hader und dem aus Passau stammenden Zimmerschied. Zwei Kabarettisten und Schauspieler, die hier wunderbar harmonieren.
Foto: ZDF / Fabio Eppensteiner
Die Handlung ist auf zwei Zeitebenen aufgeteilt: Teil eins spielt kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als in Bayern „für einen Moment die Roten an die Macht“ kamen, wie eine Erzählerstimme zu Beginn erläutert. „Die Mehrheit aber sehnte sich nach einer stabilen, autoritären Regierung.“ Auch im Dorf Lohfing kommt es zum Umbruch. Nach dem Tod des alten wird ein neuer Bürgermeister gesucht. Kurz ist sogar der Schuster im Gespräch, aber der aus der Nähe von Lemberg in Galizien (dem heutigen Lwiw/Ukraine) eingewanderte Krause hat sich nie um offizielle Aufnahme im Gemeinderegister bemüht und will auch nichts davon wissen, selbst ein „A-bopa“ zu werden. Stattdessen wird Silvan Heingeiger, sein Nachbar, der neue Bürgermeister. Sein Sohn Silvan Heingeiger junior (Frederic Linkemann) ist gerade aus dem Krieg zurückgekehrt und gerät im Wirtshaus sogleich mit Ludwig Allberger (Sebastian Bezzel) aneinander, dem roten Meinungsführer im Dorf. Mit der Rauferei der beiden ist der Ton gesetzt. Silvan junior gehört im ersten Teil zu einer rechten Freikorps-Truppe, die Jagd auf die bayerischen Revolutionäre macht. Und im zweiten Teil, der nach einem Zeitsprung von mehr als zehn Jahren die Ereignisse kurz vor der Machtergreifung der Nazis erzählt, terrorisiert er als SA-Mitglied mit seinen braunen Spießgesellen das Dorf. Ins Visier gerät natürlich neben den Roten insbesondere der Schuster, weil dessen jüdische Herkunft durch eine millionenschwere Erbschaft auffliegt. Antisemitismus, menschliche Gier und der Machtkampf innerhalb der nationalsozialistischen „Bewegung“ brechen sich auch in Lohfing schon vor 1933 Bahn. Und die Katholische Kirche ist in diesem spannenden, aus der ländlichen Ferne gezeichneten Zeitbild der Weimarer Republik vor allem auf den eigenen Wohlstand bedacht.
„ ,Sturm kommt auf‘ ist ein Heimatfilm – ein bayerischer. Ein Zeitporträt im Voralpen-Westerngewand. Menschen werden verführt, ins Verderben gestürzt, auf dem Land genauso wie in der Stadt. Die Geschichte erzählt von uns. Das war mal Gegenwart, nicht lange her. Ich überlasse es den Zuschauerinnen und Zuschauern, mögliche Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.“ (Matti Geschonneck)
Eine einschränkende Kritik ist dennoch geboten: So mag der furchterregende Auftritt von Frederic Linkemann zwar beeindrucken. Aber mit der Figur des Silvan junior sind die Frontlinien in der filmischen Fiktion von Anfang an allzu klar gezogen. So erzählt „Sturm kommt auf“ weniger eine Entwicklungsgeschichte, sondern den klassischen Kampf der Guten gegen die Bösen, dramatisch zugespitzt durch den innerfamiliären Konflikt im Hause Heingeiger. Denn Silvan junior liegt nicht nur mit seinem furchtlos-aufrechten Vater, dem neuen Bürgermeister, politisch (und finanziell) über Kreuz, sondern intrigiert auch gegen seine Schwester, mit tragischen Folgen. Was sonst im Dorf passiert, bleibt dagegen etwas unterbelichtet. Helmfried von Lüttichau spielt noch einen typischen Wendehals, den Johann Stelzinger, dessen Tochter Julie (Antonia Bill) in den roten Ludwig verliebt ist. Aber wie der Nationalsozialismus nach und nach in der Landbevölkerung Fuß fassen konnte, wie sich Menschen arrangierten oder wie sie sich auch jenseits brutaler Gewalt verführen ließen – den zugegeben komplexen Prozess des Wandels zwischen den Weltkriegen vermag dieses historische, auf Oskar Maria Graf basierende und zweifellos großartig inszenierte Drama letztlich nur in Ansätzen zu erzählen.
Anmerkung: In einer früheren Version hieß es fälschlicherweise, dass die Figur des Silvan junior nicht im Roman angelegt und im Drehbuch hinzugefügt worden ist. Der Autor bittet um Entschuldigung.


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Habe gerade Ihre Seite entdeckt und freue mich, bei Gelegenheit TV- Sendungen bei Ihnen nachlesen zu können. Danke!