Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen

Berlin, Stark, Möhring, Fulton-Smith, Eisfeld, Gutschmidt. Zwei Auschwitz-Überlebende & der Prozess von Nürnberg

Foto: NDR / Márton Kállai
Foto Thomas Gehringer

Im Mittelpunkt des historischen Dokudramas „Nürnberg 45“ (alle ARD-Sender / Zeitsprung Pictures) stehen weniger das Gerichtsverfahren selbst oder die angeklagten Nazi-Täter, sondern die Geschichten von zwei jungen Auschwitz-Überlebenden: Ernst Michel und Seweryna Szmaglewska sind als Reporter und geladene Zeugin in Nürnberg. Die Spielszenen nehmen neben Interviews und Archivmaterial einen eigenständigen, großen Raum ein und verbinden sich zumeist harmonisch mit dem dokumentarischen Material – wobei man allerdings auf Spielszenen aus dem KZ Auschwitz besser weitgehend verzichtet hätte. Dennoch beweist das Team um Autor Dirk Eisfeld und Regisseur Carsten Gutschmidt wieder einmal, dass man auch heute noch überraschend und erkenntnisstiftend über die Zeit der Naziverbrechen und ihrer Aufarbeitung erzählen kann.

 

Zugegeben, wer sich für Details und genaue Abläufe des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher interessiert, wird mit dem Dokudrama „Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“ nicht zufrieden sein. Auch wenn nachkolorierte Archivbilder aus dem Gerichtssaal und (zum Glück nicht nachkolorierte) Fotos und Filme aus Konzentrationslagern eingebaut werden, taugt die von allen neun ARD-Anstalten finanzierte Produktion als umfassende Aufbereitung des wegweisenden Gerichtsverfahrens gegen die NS-Haupttäter weniger. Und dennoch wird deutlich, wie bedeutsam dieses von den Siegermächten bereits kurz nach Ende des Krieges einberufene Tribunal war. Das belegen die klug ausgewählten Biografien von zwei Menschen, die in jenen Tagen in unterschiedlichen Rollen, aber aus ähnlichen Gründen nach Nürnberg gereist waren: Der bereits 1939 als 16-Jähriger aus Mannheim deportierte Jude Ernst Michel schrieb als Sonderberichterstatter der Deutschen Allgemeinen Nachrichtenagentur (DANA) über den Prozess. Die 1916 geborene und 1942 verhaftete Polin Seweryna Szmaglewska, die sich dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer angeschlossen hatte, soll als Zeugin in Nürnberg aussagen. Beide haben das KZ Auschwitz überlebt und sehen sich wenige Monate später im Gerichtssaal einigen der Hauptverantwortlichen für die NS-Verbrechen gegenüber.

Nürnberg 45 – Im Angesicht des BösenFoto: NDR / Márton Kállai
Legen Sie sich mal ins Zeug! Hermann Göring (Francis Fulton-Smith) will, dass sein Anwalt Otto Stahmer (Wotan Wilke Möhring) endlich Ernst Michel davon überzeugt, Göring zu treffen. „Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“ (ARD/NDR, 2025)

Spielszenen sind neben Interviews und Archivmaterial ein elementarer Bestandteil des filmischen Konzepts, das mitunter in fließenden Übergängen zwischen den verschiedenen Ebenen wechselt. Außerdem durchbrechen Jonathan Berlin und Katharina Stark hin und wieder die vierte Wand und sprechen direkt zum Publikum – wohl in der Hoffnung, insbesondere ein junges Publikum durch persönliche Ansprache der Identifikationsfiguren zu erreichen. Jonathan Berlin spielt den blassen Ernst Michel, der in Auschwitz im Krankenrevier Zeuge von Mengeles Menschenversuchen wurde und von Alpträumen geplagt wird. Als Reporter verfolgt er in Nürnberg dennoch unermüdlich den Gerichtsprozess und hämmert seine Berichte in die Schreibmaschine. Seine Artikel erscheinen in mehreren Zeitungen und erregen auch die Aufmerksamkeit des prominentesten Angeklagten, des ehemaligen Reichsmarschalls Hermann Göring (Francis Fulton-Smith). Der beauftragt seinen Anwalt Otto Stahmer (Wotan Wilke Möhring), Michel zu einem Gespräch einzuladen, denn: „Schreiben kann er ja, der Judenbengel.“ Fulton-Smith in der Pose feister Göring’scher Abgebrühtheit, Möhring als betont nachdenklicher Jurist mit Brille – auf solche Szenen mit überschaubarer Aussagekraft hätte man verzichten können, wäre es in Nürnberg nicht wirklich zu der Begegnung zwischen dem „Angeklagten Nr. 1“ und Ernst Michel in Görings Zelle gekommen. Darauf läuft somit der eine der beiden fiktionalen Handlungsbögen des Films hinaus.

Zwischendurch trifft Michel beim Rasieren im Waschraum seiner Unterkunft auch mal auf Willy Brandt (Franz Dinda), der ebenfalls als Reporter (für eine norwegische Zeitung) in Nürnberg war. Wie die Gespräche Michels mit Seweryna Szmaglewska (Katharina Stark) auf der Treppe des Gerichtsgebäudes sind die kurzen Wortwechsel wohl eher eine fiktionale Ausschmückung, aber solche Begegnungen wären jedenfalls möglich gewesen. Der zweite Handlungsbogen umfasst die märchenhafte und doch reale Liebesgeschichte der Polin mit einem Freund aus Vorkriegszeiten, dem sie im KZ Auschwitz wiederbegegnete. Seweryna und Witold (Max Schimmelpfennig) versprachen sich gegenseitig zu heiraten, falls sie überleben sollten. Doch nachdem Witold das Lager auf einem Todesmarsch verlassen hatte, verloren sich beide aus den Augen – bis er in einem Artikel in einer Nürnberger Zeitung las, dass Seweryna dort als Zeugin aussagt. Und so sind die Biographien von Ernst Michel und Seweryna Szmaglewska wohl doch auf eine besondere Weise verbunden, denn: „Wir haben nur einen Artikel über Sewerynas Aussage gefunden, der auch in einer Nürnberger Zeitung erschienen ist. Und diesen Artikel hatte geschrieben: Ernst Michel“, berichtet Autor Dirk Eisfeld.

Nürnberg 45 – Im Angesicht des BösenFoto: NDR / Márton Kállai
Oben: Szene eines Albtraums: Ernst Michel (Jonathan Berlin) vor der Türe von Hermann Görings Zelle. Tatsächlich kam es zu diesem Treffen. Unten: Ein gegenseitiges Erkennen auf den Fluren des Nürnberger Justizpalasts. Seweryna Smzaglewska (Katharina Stark) erblickt Ernst Michel – und beide erkennen, dass sie dasselbe Grauen überlebt haben.

Die Erlebnisse von Michel und Szmaglewska in Auschwitz werden in einigen Rückblenden erzählt. Die Schrecken des Konzentrationslagers in realistisch angelegten, aber letztlich banalisierenden Spielszenen zu erzählen, bleibt auch im Jahr 2025 und in einer explizit an eine junge Zielgruppe gerichteten Produktion fragwürdig. Erst recht in einem Dokudrama, in dem mit reichlich vorhandenem Archivmaterial und Interview-O-Tönen ebenfalls eindringliche Zeugnisse vorliegen und auch genutzt werden. Wirklich überzeugen kann die Fiktionalisierung von Auschwitz hier nur, als es gelingt, Spiel und Realität miteinander zu verschränken: Dass Witold in Auschwitz einen Verlobungsring für Seweryna bastelt und über den Stacheldrahtzaun wirft, mag man kaum glauben – bis Jacek, der für das Dokudrama interviewte Sohn der beiden, den aus Drähten eines abgestürzten britischen Flugzeugs geformten Ring in den Händen hält. Wie sich von Auschwitz dramatisch, aber ohne den Versuch, die unfassbare Realität „nachzuspielen“, erzählen lässt, das hat Peter Weiss in dem Theaterstück „Die Ermittlung“ bewiesen, beruhend auf den Protokollen des ersten Auschwitz-Prozesses (1963-65) und 2024 eindrucksvoll neu inszeniert von RP Kahl.

Abgesehen davon, gelingt Eisfeld und Regisseur Carsten Gutschmidt ein spannender, bewegender Film mit einer ungewöhnlichen Perspektive auf die Zeit der im November 1945 begonnenen Nürnberger Prozesse. Neben Spielszenen und Archivmaterial schlagen Interviews mit Michels Tochter Lauren und Szmaglewskas Sohn Jacek Brücken in die Gegenwart und zur Generation der Kinder der Überlebenden. Und während auch der 2016 verstorbene Ernst Michel selbst, der die Erinnerung an die Naziverbrechen zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, mit einem vor seinem Tod geführten Interview ausführlich zu Wort kommt, gibt es nur einen O-Ton von Seweryna Szmaglewska: ihre Aussage vor dem Nürnberger Gericht, das sie nach zermürbender Wartezeit schließlich doch noch anhört. Allerdings liegt die Originalaufnahme nur bruchstückhaft vor, sodass Darstellerin Katharina Stark einige Passagen aus dem Protokoll ergänzend vorträgt. Szmaglewska sollte in Nürnberg berichten, wie mit Kindern in Auschwitz verfahren wurde. Zum Glück wurde in diesem Zusammenhang auf Spielszenen verzichtet. Ihre nüchtern vorgetragenen Aussagen sind erschütternd genug. Während ihrer Zeit in Auschwitz führte Szmaglewska heimlich ein Skizzenheft, und kaum in Freiheit, schrieb sie ihre noch frischen Erinnerungen in einem Buch auf, bis heute nach ARD-Angaben Pflichtlektüre in Polen, das  2020 auch in Deutschland unter dem Titel „Die Frauen von Birkenau“ erschienen ist. Ihr Roman „Die Unschuldigen von Nürnberg“ bildete unter anderem die Basis für Eisfelds Drehbuch. Und im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher sagte Szmaglewska als eine von nur zwei Frauen aus. Dass „Nürnberg 45“ auf diese in Deutschland wenig bekannte Zeitzeugin aufmerksam macht, ist ein besonderes Verdienst der Produktion.

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Fernsehfilm

BR, HR, MDR, NDR, RB, rbb, SR, SWR, WDR

Mit Jonathan Berlin, Katharina Stark, Max Schimmelpfennig, Francis Fulton-Smith, Wotan Wilke Möhring, Franz Dinda, Rony Herman, Hendrik Heutmann

Kamera: Jens Boeck

Szenenbild: Bernadette Redenczki

Kostüm: Júlia Szlávik

Schnitt: Diana Matous

Musik: Jens Südkamp

Redaktion: Marc Brasse, Andrea Bräu, Mark Willock, Thomas Kamp, Rolf Bergmann, Anais Roth, Natalia Bachmayer, Natalie Weber, Michaela Herold, Thilo Kasper

Produktionsfirma: Zeitsprung Pictures, Spiegel TV

Produktion: Michael Souvignier, Till Derenbach, Kay Siering, Michael Kloft

Drehbuch: Dirk Eisfeld

Regie: Carsten Gutschmidt

Quote: 2,43 Mio. Zuschauer (13,4% MA)

EA: 09.11.2025 10:00 Uhr | ARD-Mediathek

weitere EA: 09.11.2025 21:45 Uhr | ARD

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