So kann man sich täuschen! Die so herzerfrischend freundliche Friseurin Grit Hartmann (Julika Jenkins), für die das Haare schneiden ihre große Leidenschaft ist und die sich sofort in das schöne, gesunde Haar von Hannah Wagner (Jana Klinge) verliebt, hat eine dunkle Vergangenheit. Vor zehn Jahren hat sie als Killing Grit aufgehört, ist ausgestiegen und in Schwanitz untergetaucht – ähnlich wie auf der anderen Seite des Gesetzes Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann). Das nötige Startkapital für ihren Lebenstraum eines eigenen Friseursalons hat sie sich von ihrem damaligen Arbeitgeber (Jörg Pose) „genommen“. Und der, ein Mann, dem man nicht widersprechen sollte, steht nun plötzlich auf der Matte und befiehlt ihr: „Du wirst wieder für mich putzen gehen.“ Als erstes soll sie einen Vertrauensbeweis erbringen und die nette Dorfpolizistin aus dem Weg räumen. Möglicherweise kann sich Hartmann ja freikaufen – ist doch an anderer Stelle in Schwanitz ein tödlicher Run auf eine wertvolle Briefmarke im Gange. Dabei ihre schmutzigen Hände im blutigen Spiel haben ein Marken-und-Münzen-Händler (Falilou Seck) und ein nur durchschnittlich begabter Auftragsmörder (Reza Brojerdi), der den Besitzer der indischen Kostbarkeit „weggeputzt“ hat, noch bevor er die Marke finden konnte. Finn (Maik Rogge), der Sohn des Ermordeten, steht völlig neben sich: Sein Vater war doch nur ein kleiner Postbeamter! Jetzt kann Jule (Marleen Lohse) beweisen, dass sie nicht nur ein Herz für Tiere hat.
Das Böse wohnt in und um Schwanitz. In „Haare? Hartmann!“ fallen nicht Profikiller oder fremdländische Agenten in das beschauliche Ostseedorf ein, vielmehr lauert das Unheil im Vertrauten. Niels Holle, der für die von Holger Karsten Schmidt erdachte, etwas andere ARD-Krimi-Reihe bereits elf Drehbücher geschrieben hat, entwickelte für die 26. Episode von „Nord bei Nordwest“ ein feines, gut geöltes Erzähl-Maschinchen, das geschmeidig vor sich hin surrt. Es ist clever konstruiert, hat aber nichts kühl Kalkuliertes, sondern bekommt im Verbund mit dem spannend-entspannenden Erzählrhythmus und dem sympathischen Stammpersonal eine geradezu liebevolle, zärtliche Note, die wiederum in scharfem Kontrast zu den Bluttaten und dem unmoralischen Treiben steht. Und dramaturgisch ist das Ganze sowieso top: ein überschaubarer Mikrokosmos, keine losen Enden, Deckel passt auf Topf. Da plaudern die Bestatter (Stephan A. Tölle, Regine Hentschel) ziemlich pietätlos über das „beträchtliche Loch“ im Kopf des ermordeten Postbeamten: „Das sah echt unappetitlich aus – und mehr Geld dafür gibt’s auch nicht.“ Gleichsam sind sie besorgt um das Wohlbefinden des Sohns, der seinen toten Vater sehen möchte. Da kann nur die gute Grit helfen mit ihren schicken Extensions! Die entdeckt, dass der Tote ein Toupet trägt – und unter diesem steckt die Marke, deren Wert sie noch nicht kennt. Später kommt Meh met Ösker (Cem Ali Gültekin) zum Haareschneiden zu ihr und erzählt von seinem Münzenfund und dem Händler aus dem Nachbardorf. Nur dumm, dass der, der die Marke schätzen soll, der ist, der sie haben will; koste es, was es wolle…
Der Zuschauer ist in „Haare? Hartmann!“ – wie fast immer bei „Nord bei Nordwest“ – dem Ermittlungsstand von Jacobs und Wagner meilenweit voraus, die erst auf der Zielgeraden erkennen, dass die passionierte, stets gutgelaunte Friseurin nicht die ist, für die sie alle halten. Und so kann man sich spannend ausmalen, zu welchen reizvollen Situationen es kommen könnte. Die bestätigte Ahnung sorgt für ein Lustempfinden, das Basis ist für das, was man einen guten narrativen Flow nennt. Das Schöne dabei ist, dass man nie genau weiß, was sich genau ereignen wird. Gibt es ein Blutbad? Sorgt ein Trick für das gute Ende? Oder triumphiert die Einsicht? Bei Grit Hartmann darf man mit allem rechnen. Julika Jenkins spielt sie dünnlippig hochfokussiert, dann wieder als Frau, die sich von Sympathieempfindungen leiten lässt. Sie ist weder eine eiskalte, abgrundtief böse Killerin, noch ist sie vertrottelt wie andere Figuren in der Reihe, die sich dem Auftragsmord verschrieben haben. Wie das Radfahren verlernt man auch das Töten nicht. Und genauso macht sie es: routiniert. Aber die letzten zehn Jahre sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Niels Holle gibt dieser Figur eine komplexe Genre-Psychologie mit auf den Weg: Morden mit Charakter – könnte man sagen. Und das gilt auch für die Erzählhaltung: Töten nicht als coole Sensation, als dramaturgischer Kick, der allenfalls der Handlung dient, sondern Töten als Ausdruck einer gestörten Realitätswahrnehmung. Morden mit Charakter – dieses Prinzip hat der Autor bereits in zwei Sahnestücken der Reihe, „Canasta“ und vor allem „Frau Irmler“ perfekt umgesetzt. Mord mit Charakter – das gilt auch für die Darstellung: Der Mord am ehemaligen Postbeamten und weitere Tötungen werden zwar akribisch vorbereitet, finden allerdings im Off statt.
- Nord bei Nordwest – Fette Ente mit Pilzen
- Nord bei Nordwest – Das Nolden-Haus
- Nord bei Nordwest – Auf der Flucht / Canasta / Natalja
- Nord bei Nordwest – Frau Irmler
- Nord bei Nordwest – Staffel 2022
Expliziter sind in „Haare? Hartmann!“ die amourösen Verwicklungen. Erst erklärt Jacobs sich bereit, den nächtlichen Schutz für Jule, die möglicherweise in Gefahr schwebt, selbst zu übernehmen; und natürlich hört die weibliche Konkurrenz mit. Doch daraus wird nichts, weil dieser Finn, der mit Jule offenbar eine kurze Jugendliebelei hatte, dazwischenfunkt. Da besinnt sich Jacobs auf seine polizeiliche Autorität und beraumt einen Vorort-Termin im Haus von Finns Vater an. Es folgt ein Beispiel dafür, wie gekonnt und unerwartet Krimi, Komik & Action kombiniert werden: Schusswechsel statt Hausdurchsuchung – und am Ende muss sich der Polizist sogar noch bei seinem Rivalen bedanken. Während einer Observation kommt hingegen Hannah Wagner ihrem Kollegen näher als je zuvor: Damit sie nicht auffliegen, müssen sie sich in ihrem Wagen ducken, klein machen, doch wie soll das gehen, Jacobs hat’s im Rücken – und so kollidieren ihre Körper in bester Loriot-Manier („Bei anderen geht es doch auch“), bevor Wagner eine mundende Idee hat. So oder so – das Beziehungsdreieck bleibt weiterhin erotisch in der Schwebe.