Nach der wundersamen Erscheinung von Lona Vogt alias Henny Reents im Weihnachts-Special „Ho Ho Ho“ fällt in den drei neuen Episoden von „Nord bei Nordwest“ nur noch ein einziges Mal der Name der ermordeten Dorfpolizistin, die bis zum elften Film der Reihe mit Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann) und Jule Christiansen (Marleen Lohse) ein markantes Trio bildete. Es spricht nicht nur für deren Nachfolgerin Hannah Wagner, die neue Kollegin aus Kiel, und für deren Darstellerin Jana Klinge, es spricht auch für das Konzept dieses „Donnerstagskrimi“, dass keine Lücke spürbar wird. Das Leben geht weiter im fiktiven Schwanitz. Wenn das Icon von „Nord bei Nordwest“ in den ersten Bildern der mittlerweile achtzehn Filme erscheint und das melancholische musikalische Leitmotiv erklingt, wenn sich das Licht des Nordens auf Meer und Landschaft legt, dann fühlt man sich als Zuschauer*in ein Stück weit zuhause, wohlwissend, dass die Ruhe trügerisch ist, ja, dass selbst eine Heldin – wenn es sein muss – diese „Heimat“ hoch im Norden nicht unbedingt überleben muss.
Foto: NDR / Sandra Hoever
„In Schwanitz wird es turbulent, absurd komisch und nervenaufreibend spannend“, verspricht Marleen Lohse für die neuen drei Mal neunzig Minuten. Das war eigentlich immer schon so. Die Tonlagen wechsel(t)en zwischen den Filmen und auch innerhalb einer Episode. Komik, Ironie, Zwischenmenschliches, Spannung und Gewalt, alles kam (und kommt) vor. Mit dem Zeugenschutzmotiv, das die ersten Geschichten und die Beziehungen des Trios bestimmte, herrschte insgesamt eine bedrohlichere, radikalere Grundstimmung in den Fällen. Bis auf Jule, die immer schon gern spontan vorpreschte, besaßen die sympathischen Charaktere immer auch etwas Eigenbrötlerisch-Distanziertes. Die Freundschaft der drei wurde vom Drehbuchautor und Ideengeber der Reihe, Holger Karsten Schmidt, erst nach und nach etabliert. Während die etwas spröde Lona Vogts manchmal den Eindruck machte, ihr Horizont würde am Deich enden, wirkt Hannah Wagner etwas (welt)offener. Reents hat dies immer auch mit ihrem Blick und ihrer Körpersprache deutlich gemacht, ähnlich macht es jetzt Jana Klinge, die ihre Figur vor allem mit ihren Augen erzählt. Und Jacobs, der seine Praxis nun immer öfter der frisch approbierten Tierärztin Jule überlässt, muss sich nicht mehr vor Mördern verstecken, wirkt befreit, was gut zu Hinnerk Schönemanns eigenwilligem Verhaspel-Spiel passt. Die Krimifälle sind in dieser Staffel etwas softer geworden, tendieren eher zum Komisch-Skurrilen, weniger zur gewalthaltigen Lakonie oder zum Schwarzhumorigen. Das hat auch mit Schwanitz zu tun und den liebevoll gezeichneten wiederkehrenden Sidekicks. Es können sich aber auch nicht immer nur abgezockte Killer mit coolen Schalldämpferknarren an die Ostsee verirren.
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In „Der Andy von nebenan“ steht im Mittelpunkt ein handwerklich begabter, in Schwanitz beliebter, geistig zurückgebliebener Mann um die Vierzig (Christoph Franken), dessen Adoptivvater getötet wurde. Der Zuschauer ist Zeuge der Tat. Das seltsame Ehepaar Hintzel (Sarah Hostettler, Samuel Weiss) ist bei Cem Brose (Vedat Erincin) eingebrochen und sucht etwas offenbar Wertvolles in der Wohnung des ehemaligen Seefahrers und Abenteurers. Die beiden finden das Objekt ihres Begehrens nicht, dafür geht der Herr des Hauses tödlich getroffen durch einen Pfeil aus der eigenen Armbrust zu Boden. Es ist kein vorsätzlicher Mord. Obwohl Linus Hintzel den Verdacht auf den kindlichen Koloss gelenkt hat, ist das Einzige, was der lange im Dunkeln tappende Jacobs weiß: Andy kann es nicht gewesen sein; „selbst wenn er wollte, er könnte gar nicht die Unwahrheit sagen.“ Die Krimihandlung ist im wahrsten und besten Sinne des Wortes überschaubar – und der Zuschauer stets mittendrin im Geschehen, den Ermittlern stets ein paar Schritte voraus. Die Neugier ist geweckt. Die Frage stets: Wie wird es weitergehen? Empathie spielt eine wesentliche Rolle in der Geschichte. Wir sehen, wie Andy leidet: In einer Szene hört er immer und immer wieder den AB ab, um das „Hallo Andy“ seines Vaters zu hören. Natürlich will man, dass diesem ewigen „Kind“ nichts Schlimmes widerfährt. Aber auch die Bösen sind nicht wirklich böse. Somit steckt auch viel latente Tragik in dieser Geschichte. Aber auch der Witz kommt nie zu kurz: So macht sich Broses Rote Tarantel selbstständig und verbindet den Krimi mit einem komischen Sub-Plot: Im Hotel Ahab treffen sich feierfreudige Bestatter zur Verbandskonferenz, die sich Herr Töteberg (Stephan A. Tölle) und vor allem Frau Bleckmann (Regine Hentschel) ganz anders vorgestellt haben. Statt Party mit AC/DC und Lakritzlikörchen hätten die lieber die Tagungs-Ordnungspunkte straff abgearbeitet. Doch die Riesen-Tarantel bringt alles wieder ins Lot.
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In „Der Ring“ kommt es erstmals zu kleinen Differenzen zwischen Jacobs und Wagner. Objekt der Spannungen ist Lasse Huppertz (Thomas Niehaus), der Kieler Ex-Freund der Polizistin; aber auch dessen neuer Kollegin Nina Wegendorf (Franziska Hartmann) traut der Veterinär nicht über den Weg. Nicht nur, dass die beiden Großstädter ihn, den Tierarzt mit Lizenz zum Ermitteln, ständig von oben herab belächeln – auch die Geschichte der kleinen Mila (Maggie Valentina Salomon), die Augenzeugin eines Mordes war und nun gegen eine große Nummer im Milieu vor Gericht aussagen soll, will er nicht so recht glauben. War der andere Ex-Polizist aus Kiel, der Mila entführt hatte und den Jacobs niederschießen musste, tatsächlich das (einzige) schwarze Schaf im Bullenstall? Vielleicht spielt Jacobs auch nur die Eifersucht einen Streich. Hannah Wagner jedenfalls ist angefressen ob seines Misstrauens. Autor Niels Holle gibt in „Der Ring“ anfangs weniger preis als in seiner „Andy“-Episode: Wer der Maulwurf ist, bleibt länger offen. Als dann auch noch die kleine Zeugin ausreißt, ausgerechnet bei Jules Vater (köstlich: Jens Weisser) unterkommt und sich eine Killerin (Bettina Stucky), die aussieht wie Mutti von nebenan, an die Fersen des Mädchens heftet, wird es deutlich ungemütlicher und spannend. Nach dem Höhepunkt mit kurzem Schusswechsel (kurz, weil hier keine Profikiller am Werk sind) scheint alles gut zu sein. Die Uhr aber sagt einem: Das ist die Ruhe vor dem letzten Sturm. Ein Abschiedskuss von Hannah & Lasse am Strand. Ohne konkreter werden zu können: Der Grund, weshalb die Polizistin und ihr Ex ihre Beziehung nicht wieder aufnehmen, korrespondiert mit dem Krimi-Schlussakkord, der wenig später folgt.
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Die Verbindungen zwischen Krimi und Komödie, die besonderen Motivketten, die sich durch die Handlung und über die Tonlagen hinweg spannen, sind nach wie vor das dramaturgisch auffälligste Markenzeichen von „Nord bei Nordwest“. In der dritten neuen Episode „Wilde Hunde“ baumelt ein dorfbekannter Denunziant im eigenen Treppenhaus. Gerade noch high und privat muss das Trio umswitchen von Spaß auf Ernst, vom Witzeln zum Ermitteln. Da wirken die konfiszierten Leckerchen, die sich tatsächlich als Haschkekse erweisen, am Tatort noch ein wenig nach. Am längsten darf sich die Welt für Jule drehen. Und weil sie nicht nur schläfrig, sondern auch mordsmäßg hungrig ist, folgt der Tatort-Begehung ein hoch amüsanter Stehparty-Moment, bei dem der unter die Imbiss-to-go-Anbieter gegangene Mehmet Ösker (Cem Ali Gültekin) des Toten letzte Bestellung als Leichenschmaus kredenzt. Der Krimifall von Holger Karsten Schmidt belässt anfangs Vieles stärker im Ungewissen als die Geschichten von Niels Holle. Der Plot ist komplexer, dafür aber auch komplizierter. Eine Hundepension, vergiftete Tiere, deutsch-polnischer Schmuggel, ein Krebsmedikament, das sich auch als Partydroge eignet – man kann sich schon so einiges zusammenreimen. Am Ende aber ist es mehr als eine simple Drogenkurier-Geschichte. Wunderbar wie sich die Parteien, eine Ansammlung skurriler Typen, großartig und mit weitgehend unbekannten Gesichtern besetzt, gegenseitig austricksen. Eine Pointe als narrative Krönung und zugleich eine aberwitzige Reminiszenz an „Breaking Bad“ oder mehr noch an „How To Sell Drugs Online (fast)?“.
Es spricht für die Reihe, dass man sich auch als Kritiker nicht entscheiden möchte, welche der drei neuen „Nord-bei-Nordwest“-Episoden die beste ist. „Der Andy von nebenan“ fasziniert durch seine Titelfigur, das Mitgefühl, das sie einfordert, und durch Christoph Franken, der dieser trotz ihrer erdrückenden Herzlichkeit und ihres kindlichen Gemüts etwas monströsen Figur zum Leben verhilft. Es geht um einen sagenumwobenen Diamanten, der nur dem Glück bringt, der reinen Herzens ist. Diesen Stein zu klauen ist widersinnig, steht unter keinem guten Stern. Ansonsten: viele knackige, situativ und nicht allein verbal funktionierende One-Liner („Sieht so aus, als hätten wir uns soeben unseren neuen Projektor verdient“), kleine Sprach-Jokes, die auch schon mal den Gender-Wahnsinn aufs Korn nehmen (Jacobs: „Sind Sie jetzt die Ärztin oder ich?“ – Wagner: „Sie sind die Ärztin“) und immer wieder die gescheiterten Versuche von Jule und Hauke, dem anderen ihre Gefühle zu zeigen. Dieses verspielt-verdruckste Umeinanderkreisen der beiden bereitet in allen drei Episoden große Freude. „Der Ring“ setzt ansonsten stärker auf Spannung und Genre-Muster, bekommt aber durch die trockene Art von Jules Vater, der kaum laufen, sich aber mit etwas Glück einer Killerin erwehren kann, einen komischen Kontrapunkt. Und am Ende ist sein Notrufarmband auch noch zu etwas gut (kein Zeichen, kein Motiv ist zufällig!). Auch „Wilde Hunde“ besticht durch Komplexität und Dichte, was sich auch innerhalb einer Szene zeigen kann (wenn der Zuschauer sieht, wie jemand sieht, wie jemand anderes das Gleiche beobachtet wie er). Die Ermittler haben die komischsten Dialogwechsel, die Schwanitzer kommen etwas kürzer, dafür tummeln sich viele Hunde in der Episode und ein humanmedizinisches Syndrom wird von Schmidt spannend auf Vierbeiner übertragen. Variation und Vielfalt sind die Stärken dieser Reihe. Warum also eine Episode gegen die andere ausspielen? (Text-Stand: 13.12.2021)