Merkwürdige Dinge passieren in Schwanitz. Erst verschwinden spurlos zwei Dalmatiner, die Jule Christiansen (Marleen Lohse) in Obhut genommen hat, dann stirbt eine chinesische Staatsbürgerin nach einer wilden Verfolgungsjagd bei einem Verkehrsunfall. Jule vermutet die Quelle allen Übels im „Mandarin“, dem neu eröffneten China-Restaurant mit Pension; sie mietet sich deshalb dort kurzerhand ein – und bringt sich in Lebensgefahr. Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann), der nichts von Jules Alleingang weiß, muss erst mal die Kündigung seiner frisch verliebten Noch-Kollegin Hannah Wagner (Jana Klinge) verdauen. Wie Jule vermuten auch sie in ihrem vermeintlich letzten gemeinsamen Fall, dass das „Mandarin“ ein kriminelles Geheimnis birgt: Vermutlich dient das Lokal der Geldwäsche. Als dann jedoch ein diplomatischer Sonderermittler (Lam Vissay) auftaucht und mit seinem autoritären Gebaren für Unruhe sorgt, bekommen die seltsamen Vorfälle eine politische Dimension. Dabei wird die Drohne von Mehmet Ösker (Cem Ali Gültekin), die Herrn Töteberg (Stephan A. Tölle) anfangs in Rage versetzt, noch eine wichtige Rolle spielen.
Das Fremde hält Einzug in Schwanitz. „Fette Ente mit Pilzen“ entpuppt sich als Agenten-Krimi mit Thriller-Momenten und besticht durch ebenso mysteriöse wie spannende Indoor-Szenen. Die chinesische Kultur wird in der 25. Episode der erfolgreichsten ARD-Donnerstagskrimi-Reihe „Nord bei Nordwest“ nicht nur als audiovisueller Reiz für ein magisches Ambiente genutzt, auch die unmenschliche Realpolitik Chinas, die ethnischen Säuberungsaktionen, insbesondere die Verfolgung der Uiguren, hat Drehbuchautor und Reihenerfinder Holger Karsten Schmidt geschickt in den Genre-Plot integriert. Das ist ein Novum, das zu einer Reihe passt, die mit ihren Geschichten und Erzähltonlagen immer wieder zu überraschen weiß. Dass Schmidt und Regisseurin Steffi Doehlemann den Zuschauer, die Polizisten und Jule auf eine falsche Fährte locken, nimmt man diesem Film nicht übel. Im Gegenteil. Fasziniert taucht man ein in dieses für Schwanitz so ungewohnte Farb- und Lichtspektakel im „Mandarin“, das man so im Fernsehen nur aus Rotlicht-Milieu-Krimis kennt. Man fiebert mit, wenn Jule nächtens durch die düsteren Gänge schleicht, wenn es in diesem Alptraum-Haus holpert und poltert. „Ich wollte eine fremde Welt erschaffen, eine Welt, die wir nicht durchschauen, die dunkel ist und unnahbar, eine fremde, beängstigende Kultur, die Vorurteile aus Unwissenheit entstehen lässt“, sagt Doehlemann. Mit Hilfe aller Gewerke, insbesondere Kamera, Szenenbild und Musik, ist das ganz vorzüglich gelungen.
Wem so viel Fremdes widerfährt, der braucht zum Ausgleich Vertrautes. Dafür sorgen die Interaktionen des Trios. Obgleich sich Hannah Wagner im Urlaub verliebt hat und ihrem Ehemann in spe nach Hawaii folgen möchte, kommen sich Jacobs und sie näher als je zu vor. Und das ist wortwörtlich gemeint. Eine Umarmung zum Abschied, ein Küsschen auf die Backe – und mehrere Situationen, in denen sie so eng beieinanderstehen (und sich in die Augen schauen), wie es selbst für zwei vertraute Kolleg:innen unpassend ist. Und auch die Begrüßung zwischen Jacobs und Jule, die ebenfalls von einer Reise zurückkommt, ist ausgesprochen herzlich. Beide strahlen wie zwei Honigkuchenpferde. Solche Momente sind ein schöner Kontrast zu dieser fast schon Edgar-Wallace-Giallo-Atmosphäre im „Mandarin“. Und es gibt weitere wunderbare Szenen, die die düstere Thriller-Stimmung brechen. Wenn Wagner und Jacobs, im Streifenwagen sitzend, die Straße überwachen, auf der sie einen Schwarzgeldtransport vermuten, ist die Kamera frontal auf die beiden gerichtet, fast zweieinhalb Minuten, ohne Schnitt. Es herrscht eine betretene Stimmung. Nur zögernd kommt ein Gespräch in Gang. Eine Situation, die die Beziehung der beiden auf den Punkt bringt: Nähe (sie mögen sich – und mehr als das), aber auch Distanz (noch immer siezen sie sich). Und Ironie ist auch im Spiel: der Bildausschnitt, die Körpersprache, die Reduktion – und dann kackt noch eine Möwe auf die Windschutzscheibe. Auch das Bestatter-Pärchen hat zwei köstliche Auftritte. Da sorgen nicht nur die trockenen Dialoge und absurden Situationen für Witz, auch die Bildgestaltung trägt mit zur Komik bei: wenn beispielsweise zwei identische Leichenwagen in der Totalen ins Bild fahren, und das sarkastische Duell zweier Bestatter-Unternehmen folgt.
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Die Dichte des Drehbuchs zeigt sich in weiteren Details, besonders auch in den Sätzen. „Ich kündige – und Sie und Jule sollten es als erste erfahren.“ Die Rhetorik weist unverkennbar über die Kündigungsinfo hinaus in Richtung Hochzeit. Auch die Glückskeks-Weisheiten liefern Subtexte und laden zum voraus deutenden Interpretieren ein. Jacobs‘ „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“ regt zur Exegese an. Eindeutiger ist Jules Glückskeks-Versprechen: „Sie machen heute eine gute und eine schlechte Erfahrung“, liest sie, bevor sie sich in der China-Pension ein Zimmer nimmt. Bei Hannah Wagner heißt es: „Auch der schönste Traum endet mit dem Erwachen“; das ist keine Überraschung, spielt doch Jana Klinge auch in den zwei weiteren „Nord bei Nordwest“-Episoden 2025 mit. Fragt sich nur, wie es zu Kevin allein auf Hawaii kommen wird. „Zu zweit ist man weniger allein“, steht zwar in keinem der Glückskekse. Dennoch wird mit diesem Motiv gespielt. Jacobs rät zu zwei Zwergwachteln, die Dalmatiner und ein weiteres Hundepärchen sind zu weit, Wagner will künftig auch zu zweit ihr Leben bestreiten. Ja, man kann das Bild noch weiterspinnen: zwei Bestatter-Pärchen, zwei Würstchen in der Pfanne…. Im Leben dominiert die Zwei(samkeit), in „Nord bei Nordwest“ die Drei(samkeit) – und das ist gut so. Das heißt Spiel, Dynamik, Abwechslung.
Eine Antwort
Die beiden ersten von 3 neuen Episoden bestechen wieder mehr durch das nette Zusammenspiel der 3 Protagonisten als durch eine fesselnde Story.
4 Sterne