Nord bei Nordwest – Auf der Flucht / Canasta / Natalja

Schönemann, Klinge, Lohse, Holle, Herzogenrath. Lust und gute Laune ersetzen Routine

Foto: NDR / Sandra Hoever
Foto Rainer Tittelbach

Von der ersten Minute an wird auch im 2023-Jahrgang von „Nord bei Nordwest“ deutlich, dass man sich hier nicht in einem ARD-„Donnerstagskrimi“ von der Stange, sondern in der von Holger Karsten Schmidt erdachten etwas anderen Krimi-Reihe befindet. Drei neue Episoden mit drei sehr unterschiedlichen Tonlagen und Genre-Mixturen. „Auf der Flucht“ ist ein Geiselnahme-Krimi mit Thrillermomenten, „Canasta“ eine göttliche Kriminalkomödie mit viel schwarzem Humor und „Natalja“ ein Agentenkrimi mit Thrill, Gefühl & einer russischen Polizistin mit Tötungsauftrag. Ob wenig spaßiges Häftlingstreffen in der Tierarztpraxis, freigesetzte kriminelle Energien aus der Mitte der Gesellschaft, gepaart mit trockenem Sprachwitz à la Loriot, ob Hitchcock‘scher MacGuffin und Killer-Coolness – jede der drei neuen Filme hat seine ganz besonderen Momente. Das Bemerkenswerteste an der Gesamtrezeptur ist neben der Lockerheit, mit der die Genre-Muster variiert werden, und neben der Methode, kleine Dinge große Effekte erzielen zu lassen, vor allem das gewachsene Beziehungsdreieck, das von Staffel zu Staffel stimmiger wird. Diese Charakter-Stärke und dieses „intime“ Miteinander fehlt den meisten Unterhaltungskrimis hierzulande. Und auch die Beziehungskomik ist anders: Sie kommt meist aus dem Wesen der Hauptcharaktere.

Das Verbrechen schläft nicht in Schwanitz. Noch findet Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann) Zeit für ein entspanntes Bad in der Ostsee. Doch bald nisten sich vier aus einem Gefangenen-Transport entflohene Häftlinge in der Tierarztpraxis ein und nehmen Jule (Marleen Lohse) und deren Praktikantin Lea (Carolin Garnier), die Nichte von Kommissarin Hannah Wagner (Jana Klinge), als Geiseln. Unter der autoritären Führung von Victor Gericke (Roman Knizka) bereiten sich ein Hochstapler (Tino Führer) und ein psychopathisch veranlagter Bankräuber (Konstantin Lindhorst) auf ihre Flucht ins Ausland vor. In wenigen Stunden geht ihre Fähre. Ob Gerickes väterlicher Freund (Vincent Leittersdorf), der angeschossen wurde und dem Tierärztin Jule notdürftig die Kugeln herausoperiert hat, dabei sein wird, ist fraglich. Fraglich ist auch, ob Gericke sein Versprechen hält, die beiden am Ende gehen zu lassen. Was die Frauen nicht wissen: Die Flucht hat schon mehrere Menschenleben an diesem Tag gekostet.

Nord bei Nordwest – Auf der Flucht / Canasta / NataljaFoto: NDR / Sandra Hoever
Geiselnahme in der Tierarztpraxis. Die Lage ist angespannt, auch unter den vier Häftlingen. Denn diese kennen sich nicht näher. Weitere Konflikte im Laufe der Handlung sind also vorprogrammiert. Tino Führer, Konstantin Lindhorst, Carolin Garnier, Marleen Lohse und Roman Knizka als der Mann, der die Ansagen macht. „Nord bei Nordwest – Auf der Flucht“

Die Sterne-Vergabe im Einzelnen:
Die Episoden „Auf der Flucht“ und „Natalja“ sind gut für fette 4,5 Sterne, und „Canasta“ hat sich sogar 5 Sterne verdient.

Das Bedrohungspotenzial ist hoch zum Auftakt der drei neuen Episoden von „Nord bei Nordwest“. So launig sich Jacobs und Wagner unter Verwendung ulkigster Ausdrücke („potzblitz“, „Donnerlittchen“, „Jetzt schlägt’s 13“) auf der Polizeidienststelle anfangs auch die Zeit vertreiben, woran man erkennt, dass man sich hier nicht in einem ARD-„Donnerstagskrimi“ von der Stange, sondern in der von Holger Karsten Schmidt erdachten etwas anderen Krimi-Reihe befindet, so steigt doch bald sichtlich die Spannung. Eine Spannung, die sich auf die Frage konzentriert, ob es Jule unbeschadet gelingen wird, Jacobs und Wagner von der Geiselnahme zu unterrichten. So witzeln Hauke und Jule in einer Szene am Tresen der Praxis sich beinahe um Kopf und Kragen, während im Hintergrund einer der flüchtigen Häftlinge mit gezückter Waffe nach falschen Zwischentönen horcht. Action kommt gelegentlich auch ins Spiel, da sich die jungen Frauen mit der Opferrolle nicht abgeben wollen, sich wehrhaft zeigen, wenngleich – der Film dauert nun mal 90 Minuten – nicht immer erfolgreich. Im Rangeln um die Kontrolle der Situation hat immer wieder ein anderer die Oberhand. Diese ständigen Wendungen im Mikro-Spiel einer Szene betonen nicht nur das Genre, sondern sorgen immer auch für ein gewisses Augenzwinkern. Wir sind hier in einem Fernsehkrimi. Das ist pure Unterhaltung und hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun, sagen einem immer wieder viele Momente in „Nord bei Nordwest“. Die Folge: ein intelligenter Spaß. Kein Wunder, dass da Hinnerk Schönemann auch mal selbst Regie führen wollte. „Auf der Flucht“ ist sein Debüt. Holger Karsten Schmidt hat ihm dafür das passende Drehbuch geschrieben. Dass sich Schönemann mit seinen drolligen Improvisationen zurückhielt, wie er im Interview andeutet, lag wohl auch an der krimifokussierten Geschichte.

Nord bei Nordwest – Auf der Flucht / Canasta / NataljaFoto: NDR / Gordon Timpen
„Kann da etwa jemand nicht verlieren?“ Bei dem Schmunzelkrimi „Canasta“ sitzt Loriot immer mit am Tisch. Das späte Mädchen (Katja Danowski), die Dame, die für zwei lügen kann (Marion Kracht) und der Handküsse-Verteiler (Stephan A. Tölle)

Ganz anders die Tonlage des schwarzhumorigen Sahnestücks der neuen Staffel, „Canasta“. Ein regloser Kopf in einer Puddingcreme-Schnitte zeigt sofort, wo‘s langgeht in diesem Komödienkrimi von Niels Holle (Buch) und Felix Herzogenrath (Regie). Der Tote ist nicht der Einzige, der den Hals nicht vollkriegen kann. Die Gier wird augenzwinkernd zum Leitthema des Films. Eine Canasta-Runde ist bald nicht nur ihres vierten Mitspielers beraubt, sondern gelangt durch eine schicksalhafte Fügung an einen unermesslich großen Batzen an Geld, nachdem sich zwei Ganoven einen Italo-Western-liken Todeskampf geliefert haben. Hildegard Knutzen (Marion Kracht) erliegt der Erotik des Geldes („Wollen Sie mal anfassen?“), zählt es leicht erregt bei Kaffee und Schwarzwälderkirschtorte – und möchte es auf jeden Fall behalten. Bestatter Töteberg (Stephan A. Tölle) will die Millionen zurückgeben und die ihm und der Finanzspritze gleichermaßen zugeneigte Annette Weinert (Katja Danowski) schwankt noch. Trotz Komödienausrichtung bleibt die kriminelle Energie hoch. Da schlummert etwas in dieser alleinstehenden, ältlichen Dame, was nicht zu ihrem adretten Erscheinungsbild passt. Und dann ist da ja noch das Raubein (Mirco Kreibich), welches das Duell der „bösen Jungs“ überlebt hat und dem Geruch des Geldes folgt. Hauke Jacobs und Hannah Wagner ahnen zwar, was sich da im Hause Knutzen abspielt, können es der Dame allerdings nicht beweisen.

Der Zuschauer hingegen ist im Bilde. Und das macht einen Großteil des Vergnügens aus. Zu ahnen, wie die Handlung weitergehen könnte, ist bei dieser Geschichte kein Nachteil. Denn es ist nicht der große Erzählbogen, der fesselt, sondern es sind die Details, die kleinen unerwarteten Wendungen oder skurrilen Lösungen im Plot: Dass es ein Stelldichein zwischen der skurrilen Canasta-Runde und einem der Gangster geben könnte, liegt im Bereich des Möglichen, aber wie beispielsweise das Geld seinen Besitzer wechselt, ist das eigentlich Originelle. Und dass die feine Dame mit Pudel notfalls auch über Leichen gehen würde, lässt sich erahnen. Aber wie das vonstattengeht, ist das Sahnehäubchen auf der Sahnetorte. Und es ist nicht zu viel geworden! Schön schräg eben, ähnlich wie einst „Frau Irmler“, aber nie klamaukig. Ein Extralob für die Episodenhauptdarsteller und ihre Charaktere: Wann hat man Marion Kracht schon mal so liebenswert falsch und wunderbar böse gesehen? Großartig auch Katja Danowski, die schon in den „Finn Zehender“-Krimis eine Wucht war, als spätes Mädchen. Und auch Stephan A. Tölle, mal befreit von seiner Funktion als komischer Bestatter, liefert eine herrliche Performance. Mit Handkuss begrüßt er seine Damen, alle sprechen sich mit Vornamen an und siezen sich bis zum bitteren Ende. Die Episode besitzt auch vorzügliche, mitunter sehr witzige Dialogsätze. Loriot sitzt immer mit am Tisch. Zum Schmunzeln ist auch die schön hässliche Agatha-Christie-Ausstattung, und nicht weniger köstlich sind der Nebenplot mit Weinerts Zuchtbullen Herz Bube als Liebesobjekt („So mein Schatz“) oder die unglücklichen Versuche von Jule und Hauke, die Assistentenstelle in der Praxis zu besetzen, was an beider unterschwelliger Eifersucht scheitert. Wie das alles um mehrere Ecken herumgedacht ist, erfreut den Zuschauer und bringt die inneren Befindlichkeiten der beiden ewigen Um-die-Sache-Herumdruckser urkomisch auf den Punkt.

Nord bei Nordwest – Auf der Flucht / Canasta / NataljaFoto: NDR / Gordon Timpen
Bizarr wie ein Kunstwerk: Kultur trifft auf Natur, Blech küsst Holz. Hauke Jacobs (Schönemann) und Hannah Wagner (Jana Klinge) wundern sich allerdings mehr über dieses seltsame Trio als über diese postmoderne Skulptur in Tötebergs Vorgarten.

Düsterer gibt sich die Episode „Natalja“. Das hat einen guten Grund. Hauke Jacobs muss drei Mal schlucken, als er hört, dass eine „Natalja Bering“ (Jaschka Lämmert) auf ihn in der Praxis wartet. Diese Frau war eine Kollegin vor vielen Jahren, und beide waren ein Paar, bis sie gestorben ist. Offenbar war sie zu Höherem berufen und wurde für tot erklärt, damit sie im Land ihrer Geburt für den BND als Agentin eingeschleust werden konnte. Jetzt jedenfalls ist eine russische Polizistin (Marina Weis), die sich jedoch eher wie ein Profikiller aufführt, hinter der Frau her, die ihrem Ex-Freund Hauke noch etwas zu sagen hat: „Du musst bitte auf unseren Sohn aufpassen, wenn mir etwas passiert.“ Oha, das hat gesessen. Fortan steckt der scheinbar von der ganz bösen Welt Geheilte wieder in seiner bitteren Vergangenheit fest. Vater sein, das wäre nicht das Schlechteste, erst recht nicht von einem jungen Mann (Justus Johanssen), der einem das Leben rettet. Doch erst einmal überwiegt der Schmerz über einen Verlust. Nach 20 Filmminuten lebt die Titelfigur nicht mehr, sie geht Jacobs aber nicht aus dem Kopf. Einer Frau, die sich auch gegenüber des BKA (Ercan Durmaz) als russische Polizistin ausgibt, sollte man nicht glauben. Diese Frau ist eiskalt – und nicht aus der Welt…

„Natalja“ setzt auf typische Agentenkrimi-Motive und erinnert dabei eher an frühere Plots von Holger Karsten Schmidt, wurde allerdings wie „Canasta“ von Niels Holle geschrieben. Und auch Herzogenrath führte wieder Regie, zum fünften Mal bei dieser Reihe. Dem Sujet gemäß geht es rasch zur Sache. Schnell schwant dem Zuschauer Böses, den Ermittlern geht es ähnlich, den Schusswechsel auf dem Friedhof – nach nur 15 Filmminuten – können sie allerdings nicht verhindern, genauso wenig Nataljas Verhaftung, die ihr Todesurteil bedeutet. Auch wenn es in „Natalja“ für Nord-bei-Nordwest“-Verhältnisse zwischenzeitlich ernst, ja tragisch, zugeht, so zeigt dieser Film anderen ernsthaften Routine-Krimis die lange Nase. Denn da ist zum einen die einzigartige Lockerheit, mit der die Genre-Muster variiert werden, und da ist die dramaturgische Methode, kleine Dinge große Effekte erzielen zu lassen; dazu gehört jener klitzekleine Stick, eine Art Hitchcock‘scher MacGuffin, der erwachsene Menschen an ihre Grenzen gehen lässt oder gar zu Mördern macht. Die Basis dieser wie aller mittlerweile 20 Geschichten (+ Weihnachtsspecial „HoHoHo!“) aber ist vor allem das stimmige Beziehungsdreieck der Reihe. Diese Charakter-Stärke und dieses „intime“ Miteinander fehlt den meisten Unterhaltungskrimis hierzulande. Dass die jeweilige Genre-Mixtur an diesem Verhältnis grundlegend nichts ändert, macht die Geschichten umso stimmiger. Das Einzige, was sich zwangsläufig verändern muss, ist das an die jeweiligen Situationen angepasste Verhalten von Jacobs & Co. Entsprechend tickt „Nord bei Nordwest“ auch in Sachen Humor anders als viele mit Schmunzel-Elementen aufgepeppten Krimis. Die Beziehungskomik jedenfalls wirkt nicht aufgesetzt, sondern kommt meist aus der Tiefe der drei Hauptfiguren. Ein Kuss, zu dem es nicht kommt, ist mehr als nur ein verhinderter Kuss. Und eine liebevolle Berührung wie am Ende von „Natalja“ kann so Vieles bedeuten.

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Reihe

ARD Degeto, NDR

Mit Hinnerk Schönemann, Jana Klinge, Marleen Lohse, Stephan A. Tölle, Regine Hentschel, Cem Ali Gültekin; (1): Roman Knizka, Tino Führer, Konstantin Lindhorst; (2): Marion Kracht, Katja Danowski, Mirco Kreibich; (3): Marina Weis, Ercan Durmaz, Jaschka Lämmert

Kamera: Uwe Neumeister (1), Lars R. Liebold (2+3)

Szenenbild: Kay Anthony

Kostüm: Antje Petersen

Schnitt: Tina Freitag (1), Vincent Assmann (2+3)

Musik: Stefan Hansen

Redaktion: Donals Kraemer (NDR), Patrick Poch (NDR), Katja Kirchen (Degeto)

Produktionsfirma: triple pictures

Produktion: Claudia Schröder, Seth Hollinderbäumer

Drehbuch: Holger Karsten Schmidt, Niels Holle

Regie: Hinnerk Schönemann, Felix Herzogenrath

Quote: (1): 8,43 Mio. Zuschauer (28,3 % MA); (2): 8,40 Mio. (28,9% MA); 7,03 Mio. (25,7% MA); Wh. (2024) (1): 4,68 Mio. (22,1% MA); (2): 4,70 (21,2% MA); (3): 5,81 Mio. (25,3% MA)

EA: 05.01.2023 20:15 Uhr | ARD

weitere EA: 12.01.2023 und 19.01.2023 | ARD

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