Ein gutes Drehbuch hat eine originelle Handlung, die ein Regisseur dann möglichst kurzweilig und wahlweise unterhaltsam oder spannend umsetzt; das allein ist schon eine Herausforderung. Sie lässt sich allerdings noch steigern, wie der 63. „Wilsberg“-Film mit dem zunächst rätselhaften Titel „Minus 196 Grad“ beweist: Jürgen Kehrer und Sandra Lüpkes erzählen zwei Geschichten, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Natürlich gibt es eine Schnittstelle, sonst würden die beiden Ebenen ja bloß parallel nebeneinander herlaufen. Die große Kunst besteht nun darin, die zwei Handlungsstränge so geschickt miteinander zu kombinieren, dass die Verknüpfung nicht unglaubwürdig wirkt, denn dann würde die ganze Konstruktion nicht mehr funktionieren.
Der erfahrene „Wilsberg“-Regisseur Martin Enlen hat zuletzt mit „Gottes Werk und Satans Kohle“ einen der wohl anspielungsreichsten Filme im Rahmen der Reihe gedreht. Getreu der Maxime, das Vorzeichen regelmäßig zu verändern, ist „Minus 196 Grad“ deutlich weniger komisch angelegt, aber trotz einiger spannender Szenen immer noch eher eine Komödie als ein Thriller. Die Krimihandlung beginnt tragisch: Eine Frau will den Privatdetektiv (Leonard Lansink) engagieren, aber Juristin Alex (Ina Paule Klink) vertröstet sie auf morgen; sie simuliert gerade gemeinsam mit ihrem Patenonkel und dessen Freund Ekki (Oliver Korittke) ein Vorstellungsgespräch. Am nächsten Tag wird die Klientin tot aus dem Aasee gefischt. Hauptkommissarin Springer (Rita Russek) betrachtet den Todesfall zwar als Suizid, aber die Schwester (Julia Brendler) der Toten versichert, dafür habe es keinerlei Anzeichen gegeben; sie beauftragt den Detektiv, der sich ohnehin Vorwürfe macht, der Sache nachzugehen. Er findet heraus, dass Frau Mantzke kurz vor ihrem Besuch im Antiquariat eine Begegnung der unheimlichen Art hatte. Mit diesen Bildern beginnt der Film auch: Angesichts eines kleinen Mädchens im Spielzeuggeschäft erstarrt die Frau, als habe sie einen Geist gesehen. Es mag ein vergleichsweise einfacher Kniff sein, die Erklärung für diesen Schock hinauszuzögern, aber er verfehlt seine Wirkung nicht. Kehrer, der die Romanfigur Wilsberg vor rund dreißig Jahren erfunden hat, und seine Koautorin Lüpkes bedienen sich dafür eines erzählerischen Exkurses, der sich aber überhaupt nicht wie ein Umweg anfühlt, weil er bereits eingeführt ist: Alex’ Vorstellungsgespräch war erfolgreich. In der Kanzlei ihres neuen Arbeitgebers fungiert sie als Anwältin einer Klinik für künstliche Befruchtung. Auf diese Einrichtung mit dem schönen Namen Beste Hoffnung bezieht sich auch der Titel: Bei minus 196 Grad werden die befruchteten Eizellen eingefroren; zum Finale droht Alex ein ähnliches Los.
Ekki arbeitet sich derweil an einer ganz anderen Sache ab, und auch diese Ebene ist glaubwürdig eingeführt: Er hat seine abgetragene Jacke in einen Altkleidersack gestopft, aber vergessen, sein Portemonnaie rauszuholen. Als er auf dem Betriebsgelände des gemeinnützigen Vereins unhöflich abgewimmelt wird, sagt ihm sein in vielen Jahren als Steuerprüfer geschulter Instinkt, dass hier irgendwas faul ist. Zunächst geht er von illegalem Handel mit gebrauchter Kleidung oder Veruntreuung von Spendengeldern aus, aber der Dreck, den Sandfort, der Chef (Simon Hatzl) des Unternehmens, am Stecken hat, ist viel, viel größer. Rund um die beiden zentralen Handlungsstränge gruppieren Kehrer und Lüpkes noch ein paar Nebenebenen, und natürlich ist auch ein bisschen Zufall oder Laune des Schicksals im Spiel, damit sich das alles überschneidet; aber das gibt es im wahren Leben schließlich auch. Die schönste Geschichte gilt Overbeck: Der Oberkommissar hat vor vielen Jahren – „Ich war jung und brauchte das Geld“ – Samenzellen gespendet. Auf diese Weise ist er Erzeuger der heutigen Studentin Kira (Emma Drogunova) geworden, und die möchte nun ihren biologischen Vater kennenlernen. Overbeck ist zunächst alles andere als begeistert und lässt sich nur widerwillig auf einen Deal ein: Die beiden treffen sich zum Picknick, er beantwortet ihre Fragen, dann lässt sie ihn in Ruhe. Alsbald ist er allerdings ziemlich hingerissen von der Vorstellung, so eine tolle Tochter zu haben; Roland Jankowsky, für einige „Wilsberg“-Fans der heimliche Star der Reihe, spielt die entsprechenden Szenen wie ein verliebter Teenager.
Ähnlich emotional geht es auf der Ebene mit Alex zu, denn die findet größeren Gefallen am Klinikchef Friedrichs (Manuel Rubey), als sie sich anfangs eingestehen will. Auch hier gibt es ein verblüffendes Element, das von langer Hand vorbereitet wird: Als Ekki beim Trainingsgespräch von Alex wissen will, wie sie es denn mit der Familienplanung halte, weist sie ihn darauf hin, dass solche Erkundigungen bei einem Vorstellungsgespräch verboten sind. Trotzdem stellt ihr zukünftiger Chef exakt die gleiche Frage. Alex reagiert mit feministischer Konsequenz und schüttet dem Mann ihren Kaffee aufs Jackett. Tatsächlich ist das jedoch nur ein Bluff, ein kurzer Blick in eine mögliche Zukunft, die Alex allerdings im Keim erstickt, weil sie die Frage beantwortet; zum Glück, denn ihr neuer Arbeitgeber wollte mit seiner Frage zu ihrem Arbeitsgebiet überleiten. Später setzt Enlen das Element ein zweites Mal ein, als Alex einen leidenschaftlichen Kuss mit Friedrichs tauscht. Entsprechend schockiert ist sie, als er sich offenbar das Leben nehmen will. Sie und Wilsberg können ihn gerade noch retten, was zur Folge hat, dass später auch Alex in Lebensgefahr gerät. Natürlich kommt sie in letzter Sekunde davon, und erneut gelingt es Buch und Regie, eine glückliche Fügung völlig plausibel zu verpacken. Bei aller Sorgfalt ist allerdings weder dem Drehbuchduo noch Enlen ein kleiner Lapsus aufgefallen: Als Overbeck den wahren Schurken verhaftet, beschuldigt er ihn eines Mordes, von dem er noch gar nichts wissen kann. Dieses Detail stört den Genuss des Films aber ebenso wenig wie die Frage, ob es ein ruchloser Geschäftemacher tatsächlich wagen würde, sein spezielles Unwesen in einer Kleinstadt wie Münster zu treiben.
Neben dem festen Ensemble sind auch die Gastrollen gut und treffend besetzt. Manuel Rubey verkörpert den Klinikchef zwar viel zu sympathisch, um ernsthaft als Verdächtiger in Frage zu kommen, aber Alex’ romantischen Anwandlungen werden dadurch umso nachvollziehbarer. Emma Drogunova war schon in dem Kinofilm „Der Trafikant“ (2018) eine treffende Besetzung für die gleichermaßen kesse wie attraktive weibliche Hauptrolle. Wie gut es den „Wilsberg“-Geschichten tut, wenn die Strukturen im Ensemble etwas aufgemischt werden, hat bereits die mehrfache Mitwirkung von Janina Fautz als Springers Patentochter gezeigt. Für große Freude sorgen neben den ausgezeichneten und gern süffisanten Dialogen auch in „Minus 196 Grad“ diverse Kleinigkeiten. Mal ist das die Bildgestaltung, die den bekümmerten Overbeck allein an der Stelle des Picknicks zeigt, mal ein auf ganz spezielle Weise gefaltetes Zuckertütchen. Wie souverän Enlen den Film inszeniert hat, zeigen nicht zuletzt kleine witzige Momente: Overbeck bringt seiner Chefin einen Kaffee, den sich jedoch Wilsberg nimmt. Offenkundiger, aber ähnlich durchdacht ist die Musikauswahl: Zur ersten Begegnung Overbecks mit Kira erklingt „Daddy Cool“, schließlich ist der vermeintliche Vater der jungen Frau laut Klinikunterlagen sportlich, attraktiv und intelligent. Der Boney-M-Hit wird zum Leitmotiv der Beziehung und begleitet die beiden später auch bei einer fröhlichen Einkaufstour inklusive Spaßbilder im Fotoautomaten. Seine Vorliebe für Sonnenbrillen, verrät Overbeck der Kurzzeittochter, ist das Resultat seiner Bewunderung für den TV-Detektiv Magnum, weshalb Springer ihm zum traurigen Ende der Beziehung und in Anlehnung an einen beliebten Lebensrat für Prinzessinnen ins virtuelle Poesiealbum schreibt: „Sonnenbrille richten, weitermachen.“ (Text-Stand: 11.2.2019)