Es ist Nacht, der Parkplatz vor der Disco spärlich beleutet. Studentin Doro Meisner (Svenja Jung) sucht ihr Auto, fühlt sich verfolgt, telefoniert mit Freundin Laura (Kyra Sophia Kahre). Die ist erleichtert, als sie hört, dass Doro schließlich im Auto sitzt. Doch dann wird sie Ohrenzeugin wie die junge Frau ermordet wird. „Da war jemand wütend“, meint Henni Sieland (Alwara Höfels), als sie mit Kollegin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) am Tatort eintrifft und die Würgemale an der Leiche sieht. Zuerst vermuten die beiden Kommissarinnen einen Racheakt der „Vogeljäger“, einer Gruppe von Männern, die allesamt von Doro alias „Birdy“ im Onlinedating- Portal „Love Tender“ mit falschen Liebesversprechen um viel Geld betrogen wurden. Doch Doro hatte sich schon längst von dem Portal verabschiedet, der Betreiber ihre Fotos für ein falsches Profil genutzt, um Kunden abzuzocken („bin im Urlaub, mein Geld wurde geklaut, kannst du mir helfen?“). Bald gibt es unter den Vogeljägern zwei Tatverdächtige: Petrick Wenzel (Aleksandar Jovanovic), der seine sterbenskranke Mutter pflegt und auf die große Liebe hofft. Und der junge, attraktive Unternehmer Andreas Koch (Daniel Donskoy). Auch er war in der Mordnacht in der Nähe des Tatorts. Um die Ermittlungen schnell voranzutreiben, beschließen die Kommissarinnen, sich auf einen Undercover-Einsatz einzulassen – und das gegen den ausdrücklichen Willen ihres Kommissariatsleiters Schnabel (Martin Brambach). So tauchen Henni als „Kinky“ und Karin als „Star“ in die Welt des Online-Datings ein, in der potenzielle Täter und Opfer auf der Suche nach der großen Liebe sind. Als die beiden Hauptverdächtigen den Köder schlucken, ahnen die Kommissarinnen nicht, dass sie schon bald durch die Undercover-Dates mehr Einblick in das Privatleben der beiden Verdächtigen bekommen als ihnen lieb ist.
Erol Yesilkaya vom Schreibkombinat Klinke hat den MDR-„Tatort – Wer jetzt allein ist“ geschrieben. Der Autor hat schon für einige bemerkenswerte Episoden der ARD-Reihe gesorgt: den Murot-Psychoschocker „Es lebe der Tod“, die abgründigen BR-Krimis „Die Wahrheit“ und die Fortsetzung „Der Tod ist unser ganzes Leben“ (gemeinsam mit Holger Joos) sowie kürzlich den auf mehreren Ebenen spielenden Berlinale-Fall „Meta“. Die streitbaren Ermittlerinnen aus Dresden konfrontiert er mit einer geballten Ladung aus Enttäuschungen und Einsamkeit in der Welt des Online-Datings. Die Story ist klar – aber nicht einfach. Yesilkaya konzentriert sich auf zwei Verdächtige, verfolgt keine Nebenstränge (andere hätten wohl der Figur des betrügenden Portal-Betreibers mehr Raum gegeben). So schafft er es, tiefer einzutauchen in die Hauptcharaktere Petrick Wenzel und Andreas Koch – in ihre Lebens- und Gefühlswelt. Diese bekommen auch die Kommissarinnen zu spüren, da der Autor sowohl Henni Sieland als auch Karin Gorniak hautnah an die möglichen Täter heranlässt. Wenn Henni beim verklemmt-verhärmten Petrick (beängstigend gut: Alexsandar Jovanovic) auf der Coach sitzt, der Kekse und ein Getränk aus der Dose serviert, immer näher an sie heranrückt, sie ihn abblockt und er ihr danach seine bettlägerige Mutter vorstellt, um die er sich liebevoll kümmert, dann ist das eine beklemmend-intensive Szene in einer miefig-spießigen Atmosphäre. Und wenn sie kurz darauf heimlich in seinem Schlafzimmer seine Sachen durchstöbert und auf seinem Handy Fotos der toten Frau entdeckt, er ins Zimmer kommt und sie aufs Bett wirft, dann geht die Beklemmung in Bedrohung über. Karin datet derweilen Andreas (verschlagen: Daniel Donskoy) und spürt schnell, dass der ihr privat gefällt. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Verdacht und Verliebtheit, nach der sie sich sehnt, zumal ihr pubertierender Sohn Aaron ihr zu Hause nur Ärger macht. Doch für diese Situation findet Yesilkaya eine herrliche Lösung. Ausgerechnet der mürrische Schnabel wird zum Babysitter des Teenagers umfunktioniert, während Karin sich mit Andreas trifft. Und Schnabel bändigt den Jüngling mit List und Tücke, schreckt auch nicht davor zurück, ihn mit der Lieblingsmusik des Kommissars zu terrorisieren: „Peter Alexander entspannt mich“. Die Szene bietet einen wunderbaren Kontrast zu den Datings der Ermittlerinnen.
„Wer jetzt allein ist“ ist kein Film über Gefahren und Risiken des Online-Datings. Das wurde mittlerweile – vor allem auch im Krimigenre – schon des öfteren abgehandelt. Der Dresden-„Tatort“ beschäftigt sich mehr mit den Risiken und Gefahren, sich zu einem potentiellen Mörder hingezogen zu fühlen. Die Nähe und die Faszination, mit der Karin Gorniak zu kämpfen hat, das Nicht-Widerstehen-Können in einem Moment, das Spüren der beruflichen Verantwortung im nächsten – diesen Konflikt rückt der Krimi in den Mittelpunkt. Und er zeigt den schmalen Grat zwischen Spiel und existentieller Bedrohung, wenn die Welten irgendwann nicht mehr klar getrennt sind und zu einer neuen Realität werden. Der Täter steht nach rund siebzig Minuten fest, doch Theresa von Eltz, die bei den britischen Filmikonen Ken Loach und Stephen Frears ihr Handwerk gelernt, mit „4 Könige“ ein beeindruckendes Kino-Debüt hingelegt und mit einigen Folgen für die ZDF-Serie „Der Kriminalist“ im Genre Erfahrungen gesammelt hat, legt bei ihrem ersten „Tatort“ ein spannend inszeniertes und choreographiertes Finale hin. Nicht nur hier setzt die Regisseurin auf bemerkenswert lange Einstellungen.
„Die interessantesten Figuren sind für mich meist der Protagonist und der Antagonist – also Held und Bösewicht. Wenn diese beiden Figuren im Wesen ähnlich, aber in ihren Zielen so unterschiedlich wie möglich sind, dann hat man schon mal eine solide Grundlage für einen spannenden Film.“ (Erol Yesilkaya)
Am Ende verabschiedet sich Henni mit dem Satz: „Eigentlich wollte ich nie was anderes machen, aber ich kann nicht mehr“. Ein unspektakulärer Abgang, kein Sterben, keine Verletzung, keine Wut. Sie geht wie es zu ihrer bisherigen Entwicklung passt. Privat hat es nicht funktioniert, schwanger ist sie, aber ohne Mann. Und beruflich hat sie sich abgearbeitet an ihrem ewig gestrigen und konservativen Kommissariatsleiter. Sie kann nicht mehr. Als Frauen-Trio plus Schnabel ist man 2016 in Dresden gestartet. Die erste Kollegin starb am Ende des ersten Falls. Jetzt, nach sechs Einsätzen, ist auch für Henni Sieland Schluss. Weil Schauspielerin Alwara Höfels nicht mehr wollte, sie wird mit den Worten zitiert: „Unterschiedliche Auffassungen zum Arbeitsprozess und ein fehlender künstlerischer Konsens haben nach vielen Gesprächen diesbezüglich dazu geführt, dieses renommierte Format zu verlassen, da ich meine Verantwortung als Künstlerin ansonsten gefährdet sehe“. Deutliche Worte. Und auch nachvollziehbare Worte, denn ein klares Konzept ist beim Dresden-„Tatort“ nur sehr schwer erkennbar. Witzig ging es los, zwischendurch wurde es krude, der letzte Fall „Déjà-vu“ war dann richtig stark. „Wer jetzt allein ist“ zeigt, dass man auf dem richtigen Weg ist. Den muss Karin Hanczewski als Karin Gorniak an der Seite von Martin Brambach aber nicht alleine gehen. Demnächst stößt Cornelia Gröschel neu zum MDR-“Tatort“-Team.