Ein „(k)alter“ Mordfall – und noch etwas ist oberfaul vor der Küste Usedoms
Eine sogenannte Wachsleiche wird vor Heringsdorf angespült. Bei der Toten handelt es sich um eine Psychotherapeutin, die ihre Zelte auf Usedom vor zwei Jahren abbrechen wollte. Sie hatte damals einen Liebhaber – und sie hatte einen Patienten, dem das heute mehr als peinlich ist. Ist es vielleicht sogar ein und dieselbe Person? Staatsanwalt Dr. Brunner (Max Hopp) hat ihr zumindest schöngeistige Geschenke gemacht. Ein weiterer möglicher Lover-Kandidat ist der Wirt Nils Rohde (Andreas Anke), und auch Raik Harms (Ronald Kukulies), Inhaber einer Sprengmittelbergungsfirma, kannte die Tote – war doch seine Tochter Ada (Anais Sterneckert) bei ihr in Behandlung. Und dann ist da noch etwas oberfaul vor der Küste Usedoms. Das jedenfalls glaubt der von einem dänischen Unternehmen ausgebootete Raik Harms. Die Bergung von Munitionsrückständen aus dem Zweiten Weltkrieg, die dort noch immer auf dem Meeresgrund lagern, ist offenbar nicht das Kerngeschäft der Dänen. Eine ganz ähnliche Vermutung hat bald auch Karin Lossow (Katrin Sass). Da scheint ein ganz großer Sprengstoffdeal geplant zu sein. Wind davon mitbekommen hat auch der polnische Polizist Gadocha (Merab Ninidze), der noch immer ein Auge auf die ehemalige Staatsanwälin geworfen hat. Könnte vielleicht sogar Storm Nielsen (Martin Greis-Rosenthal), der Ex von Kommissarin Ellen Norgaard (Rikke Lylloff), etwas mit der Sache zu tun haben? Seltsam ist es schon, dass er gerade jetzt auftaucht und Ellen nach allen Regeln der Kunst becirct.
Foto: NDR / Oliver Feist
Es ist ein Genuss für den Zuschauer, die Geschichte(n) selbst lesen zu können
„Der Usedom-Krimi“ geht nach drei Episoden im Frühjahr 2019 bereits in die nächste Doppelrunde. Wer allerdings annimmt, dass die ARD-Premium-Reihe sich nun in Richtung konventioneller „Gebrauchskrimi“ verabschieden wird, sieht sich angenehm getäuscht. In „Strandgut“, dem ersten der beiden neuen Produktionen, verbinden die Autoren Sarah Schnier und Carl-Christian Demke einen alten privaten Mordfall mit einem internationalen Waffenhandelscoup. Mehr noch als in früheren Episoden kommt der Zuschauer bei diesem Film in den Genuss, die Geschichte(n) selbst lesen zu können. Er kann den Bildern, den Blicken, den Dialogen folgen – und sich von Minute zu Minute mehr selbst einen Reim auf alles machen. Dadurch, dass sowohl die kühle dänische Kommissarin als auch die Ex-Staatsanwältin jeder für sich in einem der beiden Fälle „ermittelt“, und sie sich wenig austauschen, weiß der Zuschauer ohnehin mehr als die beiden. Nicht selten werden drei, vier Handlungsstränge parallel erzählt – was allerdings bei dem ruhigen, entspannten, von Landschaft, Jahreszeit und dem Tempo des Insellebens geprägten Erzählrhythmus auch ältere Zuschauer nicht vor Probleme stellen dürfte. Visuell ist dieser Film eine der stärksten Episoden der Reihe. Regie führte Andreas Herzog. Es ist sein zweiter „Usedom-Krimi“ nach dem Auftakt „Mörderhus“, der noch immer das filmästhetische Highlight der Reihe darstellt. Diesmal fehlten Schnee und Eis, aber dafür zauberte Herzog mit Kameramann Wolfgang Aichholzer eine Lichtdramaturgie und eine Cadrage, die sich die Waage halten zwischen sprödem Realismus (zu dem auch die Untertitelung der dänischen Dialoge gehört) und kühler Fotokunst. Optisch besonders beeindruckend ist, wie die kleine, einsame Ada sich ein märchenhaftes Refugium schafft und wie sie sich in ein Phantasie-Gewand aus Treibgut hüllt.
Ein produktionstechnisches Plus der „Usedom-Krimis“: Es werden nicht aus Kostengründen zwei Filme von einem Regisseur und einer Crew (hinter der Kamera) gleichzeitig gedreht. So besitzt jede Episode ihre eigene Handschrift.
Foto: NDR / Oliver Feist
Der familiäre Grundkonflikt der Reihe konnte nicht gut gehen – der Relaunch schon
So begrüßenswert es zunächst auch war, den „Usedom-Krimi“ (Start: 2014) mit horizontalen Erzählbögen und einer ungewöhnlichen Backstory zu unterfüttern, so lassen sich retrospektiv auch etliche Mängel feststellen. Dass sich die Geschichten gelegentlich etwas verzettelt haben in dem doch sehr ausgedachten familiären Grundkonflikt und nicht jeder Fall gleich gut erzählt wurde („Trugspur“ und „Engelmacher“ waren kleine Ausreißer nach unten), war schon bei der jeweiligen Ausstrahlung erkennbar. Überhaupt war fraglich, ob der Konflikt, der tiefe emotionale Graben zwischen Mutter und Tochter, zwischen Mörderin und Kommissarin überhaupt überbrückbar ist, solange man einen gewissen Krimidrama-Realismus-Anspruch nicht aufgeben möchte. Regisseur Herzog hat das damals bereits erkannt: „Es ging um Schuld und um die Frage, ob man Fehler, die man einmal begangen hat, wiedergutmachen kann. Die Antwort war für mich damals ganz eindeutig: Nein, das kann man nicht, nicht wirklich.“ Und so brach die Familie – den erfolgreichen Mordermittlungen von Julia Thiel und ihrer Mutter Karin Lossow zum Trotz – langsam aber sicher auseinander. Die Thiels waren zwar mit Lisa Maria Potthoff, Emma Bading und Peter Schneider wunderbar besetzt, aber irgendwann war das dramatische Potenzial erschöpft, wenn nicht sogar überdreht. Anstatt durch den privaten „Mehrwert“ eine dramaturgische Dichte zu erzielen, wirkten die Filme nicht selten inhaltlich überfrachtet. Der Relaunch kommt jetzt einer narrativen Entschlackungskur gleich.
Lossow, gepaart mit Katrin Sass‘ Schauspielkunst, wird das Kind schon schaukeln
Und so kann sich diese ARD-Reihe momentan wieder entspannter und feiner akzentuiert entwickeln. Ihre tragische Geschichte kann man Karin Lossow nicht nehmen. Und auch wenn es ein harter Brocken ist, der da auf ihrer Seele lasten muss (den Ehemann im Affekt getötet und die Tochter Opfer eines Gewaltverbrechens): dieses, ihr Erbe ist psycho- & erzähllogisch – anders als das Damoklesschwert der Schuld, das über der Familie schwebte – in den Griff zu bekommen. Hilfreich ist dabei Lossows Charakter, gepaart mit Katrin Sass‘ Schauspielkunst: Diese Frau ist stark, sie hat das Gefängnis überstanden, die Zurückweisung durch ihre Tochter hingenommen; sie ist einsichtig und möchte wieder etwas gut machen. So hilft sie denen, die sich nicht selbst helfen können – und weil „Der Usedom-Krimi“ TV-Fiktion ist, die den Rahmen der Wirklichkeit auch mal sprengen darf, ist es ihr erlaubt, mehr als es dem (jetzt vielschichtiger angelegten) Staatsanwalt Dr. Brunner lieb ist, in die Fälle gelegentlich aktiv einzugreifen. Verbrechen bleibt also ihr Hobby. Zu dieser unterhaltsamen Note gehört in den neuen Episoden auch Sass‘ stärker süffisant-verschmitztes Spiel, das immer öfter der bisherigen großen Nachdenklichkeit ihres „Mörderhus“-Charakters zu weichen scheint. (Text-Stand: 22.10.2019)