Flüchtige Borderlinerin auf Rachefeldzug
Die Bilder der Überwachungskamera lügen nicht: Lisa Becker (Bernadette Heerwagen), unlängst aus dem Gefängnis ausgebrochen, hat vorsätzlich einen Tankstellenbesitzer erschossen. Fünf Mal hat sie abgedrückt – eine Hinrichtung? Ein Mord aus Wut? Ein Racheakt? Ihrer Psychologin (Jasmin Gerat) ist die Tat ein Rätsel: die Frau sei seelisch stabil gewesen. Nina Petersen (Katharina Wackernagel) ist dagegen skeptisch: Sie hatte es mit Lisa Becker schon einmal zu tun. Vor fünf Jahren war sie in eine Geiselnahme verstrickt, bei der sie Petersens damalige Chefin und den Bruder ihres Freundes Broder (Harald Schrott) erschossen hat. Damals war sie eine gewalttätige Frau mit einem ausgeprägten Borderline-Syndrom. Ausgerechnet einen Tag nach dem Mord wird ihr Ex-Freund und Knast-Dauergast aus der Haft entlassen. Ist das Zufall? Broder jedenfalls gibt zu Protokoll: „Ich bin durch mit ihr.“ Andererseits braucht er Geld für den Neustart und Lisa Becker hat da eine gute Quelle.
Geschwächte Kommissare, attraktive Mörderin
„Es ist nie vorbei“ spinnt einige Fäden der Auftaktepisode „Mörderische Verfolgung“ (2009) der erfolgreichen ZDF-Reihe „Stralsund“ weiter. Das Mord-Szenario und der Filmtitel des siebten Krimis aus der Hansestadt legen nahe, dass es um eine Missbrauchsgeschichte aus der Vergangenheit gehen könnte. Der Verdacht bestätigt sich, als die Frau ein weiteres Mal einen Mann nächtens mit einer Waffe – aufreizend sexy im Hosenbund platziert – heimsucht. An dessen Frau richtet der Racheengel, bevor er zur Tat schreitet, noch die Frage: „Wussten Sie, dass Ihr Mann auf kleine Mädchen steht?“. Der Zuschauer weiß bald also mehr als die Kommissare. Sie sind zwar auch auf das Missbrauchsmotiv gekommen, hecheln aber dieser seltsam getriebenen Person ziemlich orientierungslos hinterher, die doch eigentlich ziemlich leichtsinnig agiert. Die Kommissare allerdings haben genug mit der Chemie im Team zu kämpfen – und stehen alle etwas neben sich und auch das MEK blamiert sich nachdrücklich: Petersen träumt sich offenbar nach Australien (will Wackernagel vielleicht bald aus der Reihe aussteigen?), Hidde (Alexander Held) quält der Phantomschmerz im amputierten Bein und Morolf (Wanja Mues), der als Letzter nach Stralsund kam, fühlt sich ausgeschlossen. Das alles muss wohl so sein, weil der wenig komplizierte Fall für solche Profis unter normalen Umständen relativ schnell gelöst sein dürfte. Dennoch, dieses sich fremd sein, diese Spannungen, übertragen sich – anders als beispielsweise beim Team-orientierten „Tatort“ Dortmund – auf die Rezeption des Films. Die Figuren wirken unangemessen angestrengt und vieles andere wirkt so, als ob es bemüht würde, damit die Konstruktion des Plots aufgeht.
Reiz-Reaktions-Muster und Kürzel-Dialoge
In „Es ist nie vorbei“ begleitet der Zuschauer die mordlustige Antagonistin ohne Affektkontrolle ein Stück weit auf ihrem Rachefeldzug. Der Perspektivwechsel inklusive zweier genretypischer Wendungen ist narrativ und physisch das Spannendste an diesem Film von Christine Hartmann nach dem Buch von Martin Eigler und Sven Poser. Überzeugendes Medium dafür ist Bernadette Heerwagen, die ihrer Figur etwas Unstetes, Unberechenbares, einen Tick Irrsinn im Blick und einen Schuss Erotik mitgibt. Entsprechend kommt diese „Stralsund“-Episode ohne das große Action-Besteck aus. Keine Hubschrauber, wenig SEK, dafür Schüsse in Kopf und Magengegend. Deshalb aber gleich von einem Krimi-Drama zu sprechen, wäre verfehlt: die Psychologie dieser Reihe reduziert sich seit jeher auf klare Reiz-Reaktions-Muster. Das ist auch in diesem Fall kaum anders. Allein die simplen Dialoge machen es mehr als deutlich: Wie Menschen denken und fühlen, spiegelt sich nicht zuletzt in ihrer Sprache. Anfangs macht sich noch Alt-Kommissar Higge über Jungspund Morolf und seine SMS-Kürzel lustig („Es geht doch nichts über eine klare Sprache“). Wenig später beginnt der fröhliche Kürzel-Talk: „Ende im Gelände“, „Dann noch die Sache mit Benjamin“, „Was ist in dich gefahren?“, „Schlaf wird überschätzt“, „So viel zur Handy-Ortung“, „Ich hab’s nicht geschafft.“ Wer so simpel spricht oder eine Klischee-Maske verpasst bekommt wie Harald Schrotts Broder, von dem ist wenig Tiefgang zu erwarten. Für knallige 90 Krimiminuten ist „Stralsund“, die ZDF-Reihe, die die Lücke schließt, die die Privatsender mit ihrem weitgehenden Verzicht auf (Action-haltige) Krimi-Eigenproduktionen hinterlassen haben, aber immer gut. Auch „Es ist nie zu spät“ ist eher ein Krimi zum Verbrauch als zum Viele-Kritikerworte-Machen. Bessere Dialoge wären dennoch schön! (Text-Stand: 30.9.2015)