Stiller Abschied

Christiane Hörbiger wird 75 und beschenkt den Zuschauer mit einer Alzheimer-Rolle

Foto: Degeto / Sandra Hoever
Foto Rainer Tittelbach

Eine Frau vertuscht ihre Alzheimer-Symptome. Autor Thorsten Näter führt von außen an die Krankheit heran, die sich schleichend ausbreitet. Als sie endlich beim Namen genannt wird, ist die Familie gefragt. Näter wechselt die Perspektive und verändert damit das Erfahrungs- und Gefühlsspektrum auch in Richtung auf den Zuschauer, der so doppelt mitfühlen kann. Der zurückhaltend von Florian Baxmeyer in Szene gesetzte Film setzt nie auf Melodram-Effekte. „Stiller Abschied“ gewinnt zunehmend an Dichte, besticht durch eine großartige Ensemble-Leistung (Hain, Tscharre, Mommsen) und durch Hörbigers großes kleines Spiel.

Charlotte Brüggemann spürt, dass etwas nicht stimmt mit ihr. Das Wort Alzheimer aber würde diese Frau, deren „Power“ nach dem frühen Tod ihres Mannes immer gefragt war, nie und nimmer aussprechen. Genauso wenig würde sie gegenüber ihren Liebsten zugeben, dass sie Hilfe braucht. Und so versucht Charlotte, so gut es eben geht als Seniorchefin der familieneigenen Firma für Fertighäuser, die Anfänge ihrer Krankheit zu vertuschen. Noch gelingt es, die Demenz nähert sich schleichend. Zunächst ist es ein Wort, das ihr nicht einfallen will, oder ein Gegenstand, den sie verlegt hat. Dann passiert es schon einmal, dass die Konzentration komplett weg ist, dass sie sich in ein falsches Auto setzt oder die falsche Haustür nimmt. Sie rettet sich über die Runden. Ihr Sohn sieht nur ihren Starrsinn, ihre Vergesslichkeit, vor ihrer Krankheit verschließt er die Augen, obwohl seine neue Partnerin, eine gelernte Krankenschwester, die Symptome durchaus zu lesen weiß. Erst als Charlottes vielbeschäftigte Älteste in Hamburg vorbeischaut und sie die verwahrloste, mit Namens- und Erinnerungszetteln übersäte Wohnung sieht, ist offensichtlich, dass etwas geschehen muss.

Stiller AbschiedFoto: Degeto / Sandra Hoever
Die Stunde der Kinder rückt näher. Sie müssen sich endlich kümmern. Der Sohn will die Alzheimer-Erkrankung der Mutter lange Zeit nicht wahrhaben. Jeanette Hain & Oliver Mommsen

„Es wächst mir alles über den Kopf“, jammert die Heldin in „Stiller Abschied“. So ehrlich ist sie nur, wenn sie mit ihrem verstorbenen Ehemann spricht. Sonst heißt es immer nur: „Mir geht’s prima.“ Christiane Hörbiger spielt jene Charlotte – und sie spielt diese Rolle mit einer Intensität und so reich an Nuancen, dass es einen als Zuschauer ganz schön beunruhigen kann. Auch wenn sie sich immer wieder aufrappelt, um Stil und Haltung zu wahren, oder wenn sie auch noch eine offene, kluge Abschiedsrede für ihre Liebsten hinbekommt, so ist doch der Zerfall in die Geschichte und das Erscheinungsbild seiner Hauptdarstellerin eingeschrieben. Der lebendige Blick weicht einer erschreckenden Leere, die Bewegungen werden fahriger, die Haare zerzauster. Stets nur eine kleine Nuance. Die Angst vor der Krankheit tut ihr Übriges. Aus Unruhezuständen werden Tobsuchtsanfälle. Gerade dieser schleichende Prozess erweist sich als besonders schmerzlich und dramaturgisch wirkungsvoll, weil so die Unaufhaltsamkeit der Krankheit, die tragische Verlaufsform, besonders deutlich wird. Unfälle oder rascher zum Tod führende Krankheiten können schneller von den Liebsten „bearbeitet“ und überwunden werden. Der schleichende Niedergang eines Menschen aber, die Auslöschung über Jahre, ist ein Prozess, der von Seiten der Betroffenen mit Melancholie beantwortet wird, bevor endlich die Trauerarbeit einsetzen kann. Dieses Phänomen holt Autor Thorsten Näter durch seine spezielle Erzählperspektive quasi in den Film hinein und setzt den Zuschauer gleichsam diesem Prozess aus.

Stiller AbschiedFoto: Degeto / Sandra Hoever
Charlotte hat vergessen, wer diese Frau ist und/oder dass sie sie nicht mag. Christiane Hörbiger und Ulrike C. Tscharre

Näter bringt uns die Hauptfigur und ihr „Problem“ ganz nah. Er zeichnet Phänomene der Krankheit und er zeigt einen eigenwilligen Menschen, der befürchtet, bald nicht mehr richtig funktionieren zu können. Der Zuschauer wird Augen-Zeuge dieser tragischen Gewissheit, die dem Alzheimer-Patienten nach und nach genommen wird. „Manchmal ist die Ungewissheit das Einzige, auf das man sich noch verlassen kann“, sagt Charlotte, bevor sie sich in einer Spezialklinik untersuchen lassen wird. Jetzt kommt die Zeit, in der sich die Familie finden muss, um der Mutter zu helfen. Näter wechselt die Perspektive und verändert damit das Erfahrungs- und Gefühlsspektrum auch in Richtung Zuschauer. In einer sehr stimmigen Szene erinnern sich die Geschwister, eingetaucht in ein Meer voller Kerzen, an Momente mit ihrer Mutter. Nun heißt es, nicht mehr nur still mitleiden mit der vom Leben überforderten alten Frau, jetzt ist es das Mitfühlen mit den erwachsenen Kindern, die sich vom Bild der (starken) Mutter verabschieden müssen, was sich dem Zuschauer als neue Option bietet.

Autor Näter geht es in „Stiller Abschied“, den Florian Baxmeyer sehr zurückhaltend, ohne jegliche melodramatische Note in Szene setzte, also nicht nur um die Phänomenologie einer Krankheit, sondern auch um die Herausforderung, die die Alzheimer-Erkrankung der Mutter für die Familie bedeutet. Gab es bis zum Besuch der Tochter einiges, was dramaturgisch etwas bemüht wirkte, und wurde das Versteckspiel der Mutter in Zeiten guter Demenz-Aufklärung vielleicht einen Tick zu lange ausgereizt, gewinnt der Film mit zunehmender Dauer. Ist er in den ersten 35 Minuten „nur“ ein – wenngleich grandioses – Schaulaufen von Christiane Hörbiger, die in diesen Tagen ihren 75. Geburtstag feiert, so gewinnt der Film fortan auch psychologisch an Dichte. Mit den weitsichtigen Frauen bekommt die Kranken-Geschichte ein spannendes Gegengewicht. Die wunderbaren Jeanette Hain, Oliver Mommsen und Ulrike C. Tscharre bringen einen alltäglichen Ton ins Spiel, die ehrlichen Gefühle haben das Wort, die Augen werden immer glasiger, und dann hat auch die Mutter ihren letzten großen, wahrhaftigen Auftritt. Klar, dass sich da so manche Träne auf Reisen begibt…

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Fernsehfilm

ARD Degeto

Mit Christiane Hörbiger, Oliver Mommsen, Jeanette Hain, Ulrike C. Tscharre, Peter Striebeck, Marlen Diekhoff, Lotte Flack, Moritz Jahn

Kamera: Klaus Eichhammer

Szenenbild: Hans Zillmann

Schnitt: Fritz Busse

Produktionsfirma: Aspekt Telefilm

Drehbuch: Thorsten Näter – nach einer Idee von Frauke Hunfeld

Regie: Florian Baxmeyer

Quote: 5,01 Mio. Zuschauer (15,5% MA)

EA: 14.10.2013 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

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