Einige Zeit war Aalisha (Hannah Gharib) ein Star am Influencerinnen-Himmel. Eine gefakte Produkt-Empfehlung hat ihr allerdings nicht nur einen enormen Image-Schaden, sondern auch furchterregende Reaktionen im Netz eingebracht – Morddrohungen inklusive. Jetzt ist die junge Frau mit den bunt gefärbten Haaren tot. Sie ist vom Dach eines Einkaufszentrums in die Tiefe gestürzt. Suizid? Unfall? Fremdverschulden? Für die Tötungsthese spricht zunächst wenig. Hater sind Maulhelden, keine Mörder, weiß der netzaffine Kollege Márquez (Pablo Grant). Kriminalrat Lemp (Felix Vörtler) hält es mit der Selbstmord-Theorie: Aalisha sei mit den Anfeindungen seelisch nicht fertig geworden. Dazu würde die verschlüsselte Ankündigung ihres Todes passen. Kommissarin Brasch (Claudia Michelsen) ist das alles zu vage. Handfester sind da schon die Drohungen, die der Bruder der Toten (Mo Issa) gepostet hat. Der Mutter (Tahani Salim) der Familie bleibt nichts erspart: Die Tochter tot, ihr eigen Fleisch und Blut möglicherweise der Täter, der Vater (Husam Chadat) schließlich erleidet ob dieser Hiobsbotschaften einen Herzinfarkt. Und dann kommen plötzlich Zweifel auf, ob es sich bei der Toten wirklich um „Lisha“ handelt. Von ihrer Schwester (Eman Dwagy) jedoch wurde die Leiche in der Rechtsmedizin eindeutig identifiziert.
Der „Polizeiruf 110 – Unsterblich“ ist eine Herausforderung für einen Kritiker, der seine Begründungen transparent machen und gleichzeitig den Zuschauer:innen nicht zu viel verraten möchte. Die dramaturgische Besonderheit dieses Krimis von Autor Michael Gantenberg („Unter Verdacht“) und Florian Knittel („Disko 76“) ist ein Clou, der nach dem ersten Drittel Konturen annimmt und 30 Filmminuten später an Klarheit gewonnen hat, ohne dass der Täter hundertprozentig auszumachen wäre. Die klassische Krimihandlung bleibt also bis zum Ende relativ spannend, insbesondere die letzten zehn Minuten entwickeln sich zu jener Last-Minute-Rescue-Variante, die für dieses Krimi-Narrations-Muster die wahrscheinlichste Auflösung darstellt. Somit ist dieser achtzehnte „Polizeiruf“ aus Magdeburg ein solider Gebrauchskrimi, der einem zweiten Blick allerdings schwer standhält. Dabei rettet Claudia Michelsen schon alles, was zu retten ist. Überzeugend ist sie sowohl in den Momenten, in denen ihre Doreen Brasch der – nach Aussage des Vaters – „verfluchten“ Familie einfühlsam und sensibel die Todesnachricht überbringt, als auch in den Szenen, in denen sie mit Aalishas Mitbewohnerin (Katharina Stark) ihre ironisch provokativen Spielchen treibt. Das gelingt ihr ähnlich gut wie Jörg Hartmanns Faber im „Tatort“ Dortmund, und es bringt den Fall unterhaltsam voran.
Bestenfalls solide sind die ersten 30 Minuten. Auch wenn der Film danach die bereits erwähnte interessante Wendung nimmt, so lässt sich dadurch der anfangs gewonnene Eindruck eines stereotypen, etwas langatmigen Whodunit nicht überschreiben. Zu nachhaltig haben sich die Allerweltsdialoge mit Botschaftscharakter eingeprägt: „Hier gibt es alles im Überfluss, nur keine Empathie“, darf der Gerichtsmediziner einen moralisierenden Merksatz am Tatort loswerden, wo allein eine junge Frau helfen wollte, die anderen nur ihr Handy zückten. „So viel Aufmerksamkeit hatte sie zu Lebzeiten nicht“, bilanziert der junge Mann für die Hintergrund-Recherchen. Der übernimmt die Rolle des Vermittlers zwischen den Generationen und den unterschiedlichen Kommunikationsformen. In München mit „Kalli“ Hammermann funktionierte das zuletzt im Internet-„Tatort – Schaut mich an“ sehr viel besser. In „Unsterblich“ hingegen dominieren stets Sätze, die Kommissariats-Interaktion vortäuschen, in Wahrheit aber an den Zuschauer gerichtet sind: „Wenn einen sowas so fertig macht, warum zieht man nicht einfach den Stecker: Router aus und Feierabend?“, stellt sich Lemp besonders naiv, damit Márquez folgenden Erklärsatz loswerden kann: „Noch nie sehnsüchtig auf ein Like gehofft?“ Ein Satz der in Richtung des Social-Media-fernen Lemp absolut unpassend ist. Und dann gibt es noch altkluge Küchenpsychologie obendrauf: „Wenn du immer online bist und dir das dann genommen wird und du sonst nichts hast – was dann?“
Die wohlfeile moralische Entrüstung, die fast immer mitschwingt, wenn sich die beliebten Sonntagskrimis im Ersten umstrittenen und häufig zu Recht schlecht beleumundeten Jugendkulturphänomenen zuwendet, wird in „Unsterblich“ kombiniert mit einer anderen, traditionsreichen Unart deutschen TV-Erzählens: der erdenschweren Tristesse. Nichts gegen düstere, molltongefärbte Krimis, wenn sie stimmig wie stimmungsvoll von Leid, Schmerz und Tod erzählen. Doch in diesem „Polizeiruf“ verkommt Haltung zur erwartbaren moralischen Währung, weil die Charaktere nicht vertieft werden, sondern sie die Handlung allenfalls mit Emotionen aufladen. Fassungslos, ratlos, sprachlos – so zeigen sich die Mansours. Beispielhaft eine Szene, die nichts anderes als Sinnbild sein soll: Der Sohn sinniert im Dunkeln des familieneigenen Lokals, wird anschließend von „Kumpels“ vor dem Haus blöd angemacht, bevor sich der Rest der Familie wie auf Kommando auf dem Bürgersteig zur Familienaufstellung versammelt. Wie diese Familie für oberflächliche Betroffenheit beim Zuschauer sorgen soll, so liefert das Internet-Milieu allein Spielmaterial für den Krimiplot. Das widerwärtige Phänomen selbst bleibt unreflektiert, wird allenfalls mit Gemeinplätzen belegt, um sich so das Echauffierungspotenzial der Öffentlichkeit zunutze zu machen.
Wahrhaftiger und gefühlsechter wirken die Situationen, in denen Lemps Trauma zur Sprache kommt, das der letzte Fall verursacht hat: die Geiselnahme im eigenen Haus, die der Kriminalrat nur knapp überlebt hat. Er und Brasch sind den meisten Zuschauern vertraut; so bedarf es bei den beiden keiner umständlichen Hintergrundschilderungen, um als Betrachter mitfühlen zu können (wer’s gesehen hat, wird sich erinnern: „Du gehörst mir“ war ein Highlight der Reihe). Ein Migrationsschicksal in zwei, drei Sätzen erzählt, ein bisschen Influencer-Bashing, dazu Sucht-Psychologie und Narzissmus-Theorie in der populären Trump-Variante, beides für Anfänger: Alles wird im Drehbuch untergebracht, doch es wirkt ausgestellt, da es trotz einer guten Inszenierung im Detail nicht mit dem Atem der Erzählung synchronisiert wird. Auch das Schlagwort „Social Profiling“ fällt noch – und postwendend meldet sich bei der Kommissarin ihr soziales Gewissen. „Kennen Sie das, wenn man schon selber so ein Nazi im Kopf ist und man es nicht einmal selber mehr merkt?“ Aus dem Mund von Claudia Michelsen klingt dieser Satz noch einigermaßen authentisch. Doch stärker wiegt die Hoffnung, dass die nächsten Krimis aus Magdeburg wieder die sehr hohe Qualität der letzten Episoden erreichen. (Text-Stand: 14.4.2024)