Eine Frauenleiche treibt durch die Kanalisation. Pinky Brühl (Misel Maticevic) hat andere Probleme: Vier Morde will man ihm anhängen – das ist einer zuviel! Darauf besteht er, büchst aus, nimmt einen Schließer (Martin Brambach) als Geisel und fordert wenig später seinen Pflichtverteidiger (Joachim Król), den er im Gerichtssaal gerade noch übel zusammengefaltet hat, mit vorgehaltener Waffe freundlich auf, seine Unschuld im vierten Mordfall zu beweisen. Da kann dieser nicht nein sagen. Was selbst später noch dazu führt, dass sich der Anwalt stärker seinem Mandanten als der Polizei (Armin Rohde) verpflichtet fühlt. Dieser dreifache Mörder ist eigentlich ganz verträglich. Polizeipsychologin Lisa Brenner (Barbara Auer) ist dennoch besorgt um die befreundete Psychologin (Katja Flint), die in ihrem Gutachten Pinky als paranoid-schizophren eingestuft hat. Schließlich handelte es sich bei Mord Nummer vier, den der mutmaßliche Täter abstreitet, um Pinkys ehemalige Psychotherapeutin. Auch Pinkys Frau (Nora von Waldstetten), die sich scheiden lassen will, fürchtet seinen Zorn. Und was ist los mit Osterwald (Lars Rudolph), dem seltsamen Verlobten der Toten aus der Kanalisation?
Foto: ZDF / Stephan Persch
Es ist wieder viel los in der Hamburger Nacht. Mehr denn je präsentiert Lars Becker dem Zuschauer eine Krimi-Thriller-Wundertüte voller Überraschungen. Verschiedenste Tonlagen werden angeschlagen: Erichsen witzelt zynisch, Brenner ist emotional involviert und greift sogar zur Waffe, die Szenerie ist mal thrillerhaft düster, mal realistisch bedrohlich, doch die Oberhand behält in diesem wohl durchdachten Handlungs-Chaos die Ironie. „Ein Mord zuviel“ – das heißt: so viel Tarantino wie möglich und so viel „Crime doesn’t pay“ wie nötig. Das Resultat ist ein buntes anything-goes-Pop-Panoptikum, inspiriert vom Neo-Noir-Thriller, dem Milieu-Krimi und den amerikanischen Straßenwestern. Mehr denn je bringt die neunte „Nachtschicht“ die Eigenschaften der Reihe auf den Punkt, die da lauten: interaktiv, multiperspektivisch, schnell, abwechslungsreich. „Nachtschicht“ ermittelt nicht in die Tiefe eines Problems, sondern in die Breite einer (fiktionalisierten) Gesellschaft. Dabei sucht die Reihe nicht den totalen Zugriff auf die Geschichten, sondern sie sucht die Wahrheit im Detail.
Foto: ZDF / Stephan Persch
Soundtrack: u.a. Morcheeba („Rome wasn’t built in a day“), Stanfour („Say You care“), David Bowie („See Emily Play“, „The Jean Genie“), The Kooks („She moves in her own way“), Texas („Say what you want“), Nina Simone („Love me or leave me“), The XX („Infinity“), David Gray & Annie Lennox („Full Steam“)
Dass auch der Teufel ab und an im Detail steckt, fällt bei Lars Beckers Füllhorn an eigenartigen Figuren, skurrilen Situationen und wundersamen Wendungen kaum auf. Wen stört da schon, dass ein Gerichtsverfahren am späten Nachmittag eröffnet wird, eine Psychologin noch um Mitternacht Patienten empfängt oder in der 67. Filmminute das Insert 0:30 Uhr anzeigt, während es auf der Uhr im Film 23:21 Uhr ist. Dass die Psychologie der Figuren etwas unterbelichtet ist, der gute Pinky im Gerichtssaal noch droht, „Lassen Sie sich was einfallen, sonst sind sie tot“, während er sich wenig später recht zahm gibt – das gehört nun mal zum dramaturgischen Konzept. Etwas seltsam ist auch, dass er sich in einer Szene offenbar selbst in den Fuß schießt, davon aber später nichts mehr zu sehen ist. Doch egal, gegenüber dem hohen Lust-Faktor der „Nachtschicht“ sind solche kritischen Beobachtungen Peanuts. Fazit: „Nachtschicht“ vereint das Einzigartige mit dem Seriellen und versöhnt den Kritiker mit dem Fan. Dieses Prinzip verfolgt die Reihe perfekter als der „Tatort“.