Normalerweise hätten sich die Fabers und die Popovs nie kennengelernt. Soraya (Neda Rahmanian) und André (Matthias Koeberlin) sind ein gut situiertes Architekten-Ehepaar, während sich der gelernte Gärtner Viktor (Maximilian Grill) mit einem Putzjob zufriedengeben muss und seine Frau Monika an der Käsetheke im Supermarkt steht. Die Kinder sind schuld. Seit einem halben Jahr sind Mila (Hannah Schiller) und Leon (Paul Sundheim) ein Paar. Grund genug für die Fabers, die Popovs in ihr Luxusheim mit Pool und Park zum Abendessen einzuladen. Eigentlich gibt es noch andere Gründe: Soraya sieht unvorteilhafte Veränderungen bei ihrer Tochter. Klar, wessen Einfluss das nur sein kann! Zumindest dieses Vorurteil ist schnell vom Tisch: Leon ist Klassenbester. Nach der holprigen Begrüßung duzt man sich gezwungen, talkt small und wartet verzweifelt auf die Kinder, die die Situation entspannen könnten. Als erstes kommt Mila, Kampfveganerin und erwartungsgemäß nicht so begeistert wie die Gäste von Papas Chateaubriand. Leon verspätet sich, nicht ohne Grund. Das junge Paar hat sich kurz zuvor getrennt. Die Eltern könnten aufatmen, gäbe es nicht noch eine andere Hiobsbotschaft.
„Treffen sich ein Ehepaar aus der gehobenen bürgerlichen Mittelschicht und eines aus der Unterschicht…“ So fangen gern Witze an. „Gäste zum Essen“ beginnt ähnlich. Der ZDF-Fernsehfilm startet als Komödie mit Fremdschäm-Effekten. Zwei Parteien möchten angeblich einen schönen Abend miteinander verbringen, dabei ist ihnen doch nur daran gelegen, die Stunden mit diesen „Bonzen“ und diesen „unmöglichen Leuten“ einigermaßen schmerzfrei hinter sich zu bringen. Doch dann bricht das Drama über die sechs Anwesenden herein. Die sozialen Gegensätze bekommen ein Ventil, und die versteckten Vorurteile brechen sich kurzzeitig Bahn. So richtig böse wird es allerdings nicht. Für ein göttliches Gemetzel reißen sich dann alle wieder zu schnell am Riemen, und ist die Dramaturgie dann doch zu sehr dem Realismus-Verständnis eines Fernsehfilms und dessen Publikum verpflichtet. Daran können auch die weiteren News von der Beziehungsfront nichts ändern. Im Gegenteil. Da nun jeder sein Fett abbekommt, werden die meisten mit der Zeit immer kleinlauter. In welche Richtung die Konfliktschau geht, deutet Viktor an, ein Macho-Mann von altem Schlag: „Pass mal auf du Wurst“, wendet er sich an den Gastgeber, „jetzt hast du dich mal genug aufgegeilt an unseren Problemen. Jetzt erzähl du doch mal, was ist denn bei euch los in der Kiste?“ Und André erzählt von etwas, wovon in einem TV-Film so explizit wohl noch nie die Rede war.
„Gäste zum Essen“ ist das, was man als Dramedy oder Dramödie bezeichnet, eine Mischung aus Komödie und Drama, hier allerdings nicht in der leichter goutierbaren, über 90 Minuten gleichmäßig durchmischten Tonlage, sondern in einer durchweg lockeren Gangart mit etlichen harten dramatischen Breaks, die sich auch schon mal in extremen Riesen-Einstellungsgrößen äußern. Das ist gewöhnungsbedürftig, ergibt sich aber (psycho)logisch aus dem Verlauf der Geschichte und den Problemen, die überraschenderweise für die Protagonisten zur Sprache kommen. Die Tonart-Schwankungen haben aber auch mit einer Figurenzeichnung zu tun, bei der gesellschaftliche Klischees im Spiel sind, ja sein müssen. Motorrad vs. Haute Cuisine, prollige Direktheit vs. kultiviertes Understatement, Architekturbüro vs. Putzkolonne: Es ist ein Unterschied, ob sich in einem Alles-an-einem-Abend-Kammerspiel Figuren intellektuell auf Augenhöhe begegnen oder ob die Pinselstriche kräftiger aufgetragen werden: „Gäste zum Essen“ hat demnach allenfalls strukturell etwas mit Polanskis „Der Gott des Gemetzels“ oder den telegenen Selbstzerfleischungsabendessen à la „Silberhochzeit“ oder „Zur Hölle mit den anderen“ zu tun. Gleichsam amüsant ist auch der Film von Carolin Otterbach – vorausgesetzt, man hat nichts gegen knallige Gegensätze und knackige Konfliktlagen, vermisst nicht die feine Klinge, mit denen in oben genannten Filmen Interaktionsgefechte ausgetragen werden. Die Dialoge bleiben vordergründig und handlungsfixiert, sind subtextarm, mehr Bauch- als Kopfsache also. Umso gelungener: wie die Regisseurin mit Hilfe der Gewerke Abwechslung in die Einheit von Raum und Zeit bringt – mit Stippvisiten ins Grüne, in die Luxusnasszelle oder mit einer elegant bewegten Montage, parallel zu Andrés Beichte gegenüber den Popovs.
In einem Punkt sind in dieser Dramedy die gegensätzlichen Milieus kaum zu unterscheiden. Jeder hat Probleme und die meisten haben Geheimnisse und wollen, dass sie geheim bleiben. Tun sie natürlich nicht. Dass hier jede „Partei“ gleichermaßen entzaubert wird, ist nur gerecht, durch die Fülle der erotischen Beziehungskonflikte gehen allerdings Zwischentöne, die Raum und Filmzeit benötigen würden, verloren. In den Zweierszenen geben die Schauspieler Hinweise darauf, was mit diesem illustren Ensemble noch alles möglich gewesen wäre. Trotzdem, von Matthias Koeberlin als dauerfreundlicher Gastgeber, der stets seine etwas aufbrausende Gattin, gespielt von Neda Rahmanian, bremsen muss, bis Maximilian Grill als schnauzbärtiger Macho-Mann und Josefine Preuß, die allenfalls zu Beginn etwas dick ihren Einfache-Leute-Gestus aufträgt, machen alle ihre Sache gut. Durch die Tonlagenwechsel ist das nicht immer leicht. Hannah Schiller als schwangere Sechzehnjährige und Problem-Teenager muss sich da weniger dem Dramedy-Prinzip unterwerfen; sie darf durchweg ihre Mila ernsthaft spielen – und hinterlässt damit einen gewohnt starken Eindruck; nicht zuletzt ist auch sie es, die den Ton in einigen stillen Zweier-Drama-Szenen angibt, welche zu den emotional stimmigsten und eindringlichsten Momenten des Films werden. Fazit: Bei „Gäste zum Essen“ erwartet den Zuschauer kein bitterböses Gemetzel, sondern grundsolide Fernsehunterhaltung mit deftigem Gestichel. (Text-Stand: 6.8.2023)