Der arbeitslose „Tiefkühlmann“, seine älteren Damen und ein Schicksalsschlag
„Wollen Sie für den Rest Ihres Lebens in einen Beutel kacken, Herr Wendrichs?“ Diesen Marko Wendrichs (Axel Prahl) können die Horroraussichten seiner Orthopädin (Narges Rashidi) nicht aus der Ruhe bringen. Als Verkaufsfahrer für Tiefkühlkost hat er sich den Rücken kaputt gemacht. Aber die letzten dreißig Jahre von heute auf morgen aufgeben?! Dieser Job ist sein Leben, durch ihn hatte er ein – wenn auch bescheidenes – Auskommen, und außerdem ermöglichte er ihm ein paar soziale Kontakte über das Zusammenleben mit seinem Sohn Steffen (Merlin Rose) hinaus. Für einige seiner vereinsamten Kundinnen ist Wendrichs der Mann für alle Fälle, der sich auch privat kümmert. Diese Kontakte pflegt er auch nach seiner Kündigung. Bei Frau Horn (Christine Schorn) gibt’s Mittagessen zu „Rote Rosen“. Die fidele Frau Meuer (Inge Maux) lädt ihn sogar zu einem eierlikörseligen Geburtstag ein. Doch am nächsten Morgen gibt es ein böses Erwachen oder besser gesagt: für die Beamtenwitwe kein Erwachen mehr. Eigentlich wollte sich der lädierte Mittfünfziger nach einem Halbtagsjob umgucken oder – wie ihm seine Ärztin geraten hat – Frührente beantragen. Jetzt aber eröffnet sich dem arbeitslosen „Tiefkühlmann“ ein neues Geschäftsmodell. Praktisch, dass die Tiefkühltruhe von Frau Meuer im Wohnzimmer steht, und gut, dass er ihren EC-Karten-PIN kennt. Weniger gut, dass der Nachbar (Jan Henrik Stahlberg) so neugierig ist.
Ein Leben wie in einem traurigen Märchen. Kommt der Held raus aus seiner Misere?
Zum Betrügen muss man geboren sein. Axel Prahls kleiner Mann in dem ARD-Fernsehfilm „Eisland“ ist das nur bedingt. Auch sein Lügenkonstrukt greift zu kurz, ihm fehlt die Vorstellung, wie sein künftiges Leben aussehen könnte. Und auch so etwas wie ein gesunder Egoismus ist jenem Marko Wendrichs völlig fremd. Seine Vita ist alles andere als traumhaft und klänge in etwa so. Es war einmal ein Mann, der lebte mit seiner Frau ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben. Als sie viel zu früh starb, blieb ihm nur sein Sohn und die Erinnerung. Das vergangene Glück trug er nicht nur im Herzen, sondern es spiegelte sich auch – aufgehoben wie in einem Schatz-Kästlein – in den Liedern von Roland Kaiser, den er und seine Frau verehrten. Nach ihrem Tod war der Sohn des Mannes sein ein und alles. Er sollte es einmal besser haben. Darüber vergaß der Vater sein eigenes Leben. Die Frauen, die ihm begegneten, waren bedürftig wie er, aber älter, sie sehnten sich nach ein bisschen menschlicher Wärme, und so versorgte er sie mit seiner Aufmerksamkeit, seiner Freundlichkeit und seinem handwerklichen Geschick. Dieser Mann gab gern anderen, hatte selbst aber nur wenig. Sein Beruf konnte ihn nicht mehr nähren. Als nun eine dieser Frauen starb, glaubte der Mann einen Ausweg aus seiner Misere zu sehen. Aber ein böser Nachbar durchkreuzte seine Pläne. Und auch der erwachsen gewordene Sohn ging nun seiner Wege. Voller Schmerz blieb der Vater allein zurück. Als er da so saß, verzweifelt, sich mit Pillen und Schnaps betäubend, sprang das Schatz-Kästlein auf – und der Schlagersänger gab ihm einen kaiserlichen Rat.
„Mich haben immer diese symbiotischen Beziehungen fasziniert, die Menschen aus dem Speckgürtel zu ihrer Postbotin oder ihrem Müllmann pflegen … Ich wusste, dass Marko wie ein alter Bekannter sein muss, neben dem man abends beim Familienfest ganz selbstverständlich auf der Couch einpennen dürfte. Als die Figur greifbar wurde, kam uns sofort Axel Prahl in den Sinn. Ich wusste, dass er die Figur mit der nötigen Wärme füllen kann, ohne dabei aufdringlich zu sein.“
(Maximilian Kaufmann, Drehbuchautor)
Foto: NDR / Gordon Timpen
Eine tragikomische Antihelden-Reise, die sich nicht um Genrekonventionen schert
Die biographischen Hintergründe und Subtexte dieser Tragikomödie in eine märchenhafte Erzählung zu verpacken, hat gute Gründe: „Eisland“ erzählt zwar eine durchaus alltagsnahe Geschichte vom Verlust der Arbeit und von der durch einen „Glücksfall“ zwischenzeitlich verdrängten Suche nach einem neuen Sinn im Leben, aber es ist eben auch eine einfache, klar strukturierte Geschichte, die moralische Fragen stellt und die trotz der dargestellten Komplikationen es dramaturgisch eher unkompliziert bevorzugt oder angedeutete Handlungsmomente nicht weiterspinnt (etwa die Tiefkühltruhen-Rückholaktion). Das Ganze ist dennoch höchst erfrischend, denn eine solche tragikomische Antihelden-Reise ist im Fernsehen selten geworden. Außerdem kann man immer einigermaßen gespannt sein, wohin diese Reise geht, da hier nicht die üblichen Genrekonventionen (wie beispielsweise die einer romantischen Komödie oder einer Tragödie, die unaufhaltsam der Katastrophe zusteuert) heruntergespult werden. Diese Lust an der Überraschung wird von einem spielfreudigen, großartig besetzten Ensemble beflügelt. Axel Prahl ist die Idealbesetzung für diesen Mann, der nie gelernt hat, nein zu sagen und eigene Bedürfnisse zu formulieren. Und er spielt das anders als beispielsweise in seinen letzten Komödien “Extraklasse“, „Vadder, Kutter, Sohn“ oder „Gloria die schönste Kuh meiner Schwester“. In diesen Filmen mag es auch um Existenzielles gehen, in „Eisland“ geht es um mehr, und Axel Prahls Performance erinnert hier eher an sein Spiel in Bernd Böhlichs meisterlicher Tragikomödie „Du bist nicht allein“ (2007).
Ein Realismus, der dem Sozialen gern Trockenhumoriges und Skurriles beimengt
Komödien dürfen häufig mehr als ernsthafte Genres. Sie dürfen verspielter sein, frecher, (dramaturgisch) offener. Hierzulande merkt man allerdings nur selten etwas davon. Nach „Faltenfrei“ (11/2021) mit Adele Neuhauser, einer Perle des Genres, komplex, vielschichtig und grell, ist nun auch „Eisland“ ein sehenswerter Vertreter dieses im deutschen Fernsehen deutlich unterrepräsentierten Genres, das nicht mit den leichteren Spielarten freitags im Ersten zu verwechseln ist. Ästhetisch steht der Film von Ute Wieland („Die Rebellin“ / „Tatort – Blind Date“) nach dem bemerkenswerten ersten Langfilm-Drehbuch von Maximilian Kaufmann in einer anderen Tradition. Es beginnt eher britisch, mit einem Realismus, der dem Sozialen gern Trockenhumoriges und Skurriles beimengt. Die Geschichte ergibt sich aus dem Alltag. Wie das Leben eben so spielt: Kaufmann hat selbst mal als Kurierfahrer gejobbt, er kennt die älteren Menschen, die einen gar nicht wieder gehen lassen wollen. Kisten anheben, ein Schrei, eine schmerzverzerrte Grimasse – und rein in die Röhre. Die Montage ersetzt gern mal den Dialog, und die Musik tanzt gelegentlich atonal, polyrhythmisch oder leicht angejazzt aus der Reihe. Die Kamera zeigt das, was es zu sehen gibt, einfach her. Realismus eben. Daraus ergibt sich eine angenehme Lakonie, eine Tonlage, die das vernebelnd Emotionale scheut, aber einem durchaus Gefühle der Erkenntnis ermöglicht. Die Hauptfigur hat die Sympathie der Zuschauer*innen ja ohnehin auf ihrer Seite. Ja, mit Axel Prahl ist sogar eine Spur Sozialkritik (wieder) möglich: „Ist das richtig, dass ich dreißig Jahre Tiefkühlpizza durch die Gegend fahre und dann am Ende nicht mal meine Heizung bezahlen kann?!“
Foto: NDR / Gordon Timpen