„Ob du schläfst oder spielst macht überhaupt keinen Unterschied, Mädchen, man sieht dich einfach nicht.“ Das Urteil ihres Schauspiellehrers ist vernichtend. Als ob Fine nicht schon genug Probleme hätte. Auch Zuhause wurde sie als Kind und wird sie als junge Frau noch immer nicht gesehen. Streicheleinheiten gibt es nur für die behinderte Schwester. Ausgerechnet sie, das Mauerblümchen, bekommt die Hauptrolle im neuen Stück des berüchtigten Bühnen-Zampanos Kaspar Friedmann. Die unscheinbare Josephine spielt Camille, eine junge Frau, die sich aus der Hölle von Vergewaltigung und Suizidversuch befreit, indem sie sich zum männermordenden Vamp aufschwingt. Fine verleibt sich die Rolle ein, indem sie im sexy-Camille-Outfit ihrem Nachbarn nachstellt und an ihm die Dialoge des Stücks erprobt. Camille erwacht zur Frau. Sie schläft mit dem egomanischen Regisseur und lässt sich noch mehr von ihm quälen. Schließlich macht sie noch einen weiteren Schritt auf Camille zu…
„Die Unsichtbare“ von Christian Schwochow erzählt von einer Verwandlung, von einer Gratwanderung aus Demütigung und Selbstfindung, aus Manipulation und Menschwerdung. Die Aschenputtelgeschichte entfaltet sich als selbstreflexives Rollenspiel zwischen Sozial- und Psychodrama – hier die überforderte Mutter, die die große Tochter mit Schuldgefühlen überschüttet, dort der zynische Ersatzvater und erste Liebhaber, der diese junge Frau für sein (Macht-)Spiel missbraucht. Dieses neue Leben kann unter diesen Voraussetzungen nur eine schwere, sehr blutige Geburt sein. Die Radikalität, mit der die Heldin ihren kleinen Triumph, endlich wahrgenommen zu werden, zwischenzeitlich geradezu exhibitionistisch zu steigern versucht, tut weh – auch beim Zuschauen. Method Acting bis an die Schmerzgrenze. Die Heldin rennt sich als Camille an einer Bühnenwand die Nase blutig. Die jungen Schauspieler-Kollegen sind entsetzt, der Regisseur begeistert. Die Probenbühne verwandelt sich vom Therapiezimmer zur Kampfzone – und vielleicht wartet ja am Ende auf der Theaterbühne die Erfüllung. Stine Fischer Christensen ist die 105 Minuten bis dorthin – ähnlich wie ihre Figur – ein Versprechen. Während es nicht sicher ist, ob Josephine die Rolle der hysterischen Camille meistern wird, gelingt es der Schauspielerin deutsch-dänischer Herkunft, „Die Unsichtbare“ zu ihrem Film zu machen. Auch wenn namhaftere und brillant aufspielende Kollegen wie Dagmar Manzel, Ronald Zehrfeld und allen voran Ulrich Noethen als Regie-Tyrann der großen Posen und der kleinen Verführungen an ihrer Seite stehen. (Text-Stand: 12.10.2013)