Vermutlich könnte Ulrike Grote den Rest ihres Berufslebens damit verbringen, sich solche Geschichten auszudenken. Nachdem der Zyklus über die zwei rivalisierenden schwäbischen Gemeinden Oberrieslingen und Unterrieslingen aus dem Überraschungs-Hit „Die Kirche bleibt im Dorf“ nach vier Staffeln und zwei Kinofilmen auserzählt war, hat die frühere Schauspielerin nun einen neuen Mikrokosmos erschaffen. Die sechsteilige SWR-Serie „Der letzte Wille“ handelt vom überraschend ereignisreichen Leben in einem im Großraum Heilbronn angesiedelten Altenheim.Während das gute Dutzend Bewohner ein mehr oder minder beschauliches Dasein in der urgemütlichen, aber etwas heruntergekommenen Villa September führt, hat Heimleiterin Dagmar Winkelmann (Ulrike Barthruff) alle Hände voll zu tun, um die Einrichtung über die Runden zu retten. Dabei hilft unter anderem ein mit durchaus krimineller Energie organisierter Betrug, der irgendwann natürlich auffliegt: Wann immer ein Repräsentant der Pflegeversicherung einen Kontrollbesuch ankündigt, schlüpfen zwei ältere Herrschaften in die Rollen zweier schwer pflegebedürftiger Senioren, die schon längst auf dem heimeigenen Friedhof liegen. Für größeren Ärger sorgt allerdings Dagmars Neffe: Kurt (Christian Koerner) ist scharf auf das Grundstück inklusive Parkanlage, er will dort einen Häuserkomplex errichten, doch die Tante bleibt hart. Als sie eines Tages tot am Fuß der Kellertreppe liegt, scheint der Neffe am Ziel, aber zum Glück gibt es eine Erbin; trotzdem gehen die Probleme für die Mitarbeiter und Bewohner des Heims nun erst richtig los.
Das Handlungsgerüst ist im Grunde recht übersichtlich, und die Serie wäre garantiert nur halb so unterhaltsam, wenn die Schauspieler hochdeutsch sprächen. So jedoch sorgt schon allein der Dialekt zumindest außerhalb Württembergs für viel Heiterkeit, selbst wenn Zuschauer nördlich der Landesgrenzen für Fachbegriffe wie „Gsälz“ vermutlich gern eine Fußnote mit entsprechender Übersetzung (Marmelade) hätten. Die Mundart hat unter anderem zur Folge, dass herzhafte Flüche witzig klingen und der Schurke viel harmloser wirkt, als er tatsächlich ist, immerhin hat er seine Tante auf dem Gewissen. Deshalb geschieht ihm auch ganz recht, dass sein Plan nicht aufgeht: Ella Fernandez (Janna Striebeck), Dagmars Nichte, kommt mit ihrem Hippie-VW-Bus direkt aus Marbella. Dort hat sie zwar mit ihrer Mutter eine Pension geführt, doch von Altenheimen hat sie keine Ahnung. Das ist ihr aber ohnehin egal, denn sie will die Villa so schnell wie möglich verkaufen. Weil Dagmar ihren Schützlingen im Testament ein lebenslanges Wohnrecht garantiert hat, sollen die Alten von sich aus das Weite suchen: Ella spart am Essen, ersetzt einen Altenpfleger durch den ghanaischen Praktikanten Osaro (Eugene Boateng), der kaum deutsch kann, und erlaubt den Bewohnern nur noch einmal Duschen pro Woche. Angestellte und „Insassen“, wie die neue Leiterin die Senioren bezeichnet, lassen sich die Sparmaßnahmen nicht gefallen: Die einen reagieren mit kleinen Sabotageakten, die anderen streiken und gehen schließlich zum Gegenangriff über.
Foto: SWR / FortuneCookie / Bothor
Soundtrack:
(1) Ella Fitzgerald & Louis Armstrong („Summertime“), Al Bowlly („Blue Moon”)
(2) Glenn Miller („In The Mood”), Billie Holiday („Strange Fruit”), Louis Armstrong („La Vie En Rose”), Geraldo & His Orchestra („Heart And Soul”), Comedian Harmonists („Lebe wohl, gute Reise”, „Irgendwo auf der Welt”)
(3) The Speakeasy Three („When I Get Low, I Get High”), Amy Winehouse („Our Day Will Come”)
(4) Comedian Harmonists („Mein kleiner grüner Kaktus”), Fatboy Slim („The Rockafeller Skank”), Nina Simone („Feeling Good“, „I Put A Spell On You”)
(5) Comedian Harmonists („Ein bisschen Leichtsinn kann nicht schaden”), Diana Krall („Temptation”)
(6) Ilse Werner („Du und ich im Mondenschein“), „Wild Cherry („Play That Funky Music“), Frank & Nancy Sinatra („Somethin’ Stupid“), Otis Redding („These Arms Of Mine“), Billie Holiday („All Of Me“), Dean Martin („Memories Are Made Of This“), Joss Stone („Free Me”), Smoke City („Underwater Love”)
Zentrale Figur der Serie, die Grote (Buch und Regie) mit ihrer Firma Fortune Cookie auch produziert hat, ist zunächst ein neues Mitglied der Gemeinschaft: Die leicht demente Marlene Klingenberg (Katharina Matz) hält das Haus für ein Hotel und beschwert sich daher dauernd über den mangelhaften Service. Die alte Dame ist eine bekannte Kunstmalerin und wirkt mit ihrer mondänen Erscheinung in der Tat fehl am Platz, erfüllt jedoch in erster Linie eine dramaturgische Funktion: Mithilfe des Neuankömmlings kann Grote nach und nach das Personal sowie die anderen Bewohner vorstellen. Den Auftakt der ersten Folge bilden zwei lange jeweils ungeschnittene Einstellungen, in deren Verlauf die Kamera durch das Gebäude stromert. Auf diese Weise sorgt Thomas Vollmar, der auch schon beim TV-Ableger von „Die Kirche bleibt im Dorf“ für die Bildgestaltung verantwortlich war, für einen gelungene Einstieg, der gleichzeitig eine Verbeugung vor Szenenbildnerin Tanja Arlt ist: Die Ausstattung dieser Villa Kunterbunt ist ungemein liebevoll.
Foto: SWR / FortuneCookie / Bothor
Für Kurzweil sorgen auch allerlei kleine Ereignisse am Rande: Mal sucht Heinrich (Christian Pätzold) sein Gebiss, mal pinkelt Horst (Willem Menne) in einen Palmenkübel, weil er es nicht bis zum Klo geschafft hat, und in jeder Folge kippt Ludger (Hartmut Volle) mit seinem Rollstuhl um, wenn er wieder mal zu flott um eine Kurve fährt. Bei der Besetzung hat Grote auf viele bewährte Kräfte aus der „Kirche“-Saga zurückgegriffen; mit dabei sind unter anderem Karoline Eichhorn als schlecht gelaunte Altenpflegerin mit Trillerpfeife, Franziska Küpferle als nicht minder unleidliche Köchin, Joachim Raaf als Mädchen für alles sowie neben Pätzold noch Jürgen Haug und Sabine Hahn als Senioren. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede: Das Tempo ist dem Alter der Mitwirkenden angemessen und daher beschaulicher, der Humor ist trotz gelegentlicher böser Scherze weniger deftig. Gleich geblieben ist hingegen die jederzeit spürbare Zuneigung zu den Figuren. Selbst Ella ist keineswegs so geldgierig, wie sie zunächst scheint. Tatsächlich sind ihre Motive gänzlich anderer Natur, weshalb sogar der angesichts der Missstände empörte Hausarzt (Nicki von Tempelhoff) irgendwann seinen Groll vergisst. Für eine Altenheimserie hat „Der letzte Wille“ ohnehin erstaunlich viele Romanzen zu bieten.
Bei aller Lebensfreude und guten Laune, die die jazzigen Kompositionen von Jörn Kux und Jan-Peter Klöpfel verströmen: Die Serie verklärt den Lebensabend nicht. Gerade Marlene erlebt immer wieder Momente der Verzweiflung, und Käthe (Hahn) versucht gar, sich das Leben zu nehmen. Auch Grotes sympathische Idee, musikalische Evergreens aus den Jugendjahren der Bewohner einzustreuen, steht für Nostalgie und Vergänglichkeit. Kein Wunder, dass Osaro zur Freude nicht nur der aufblühenden jungen Pflegerin Sophie (Hannah Walter) frischen Wind ins Haus bringt. Er sorgt dafür, dass Marlene zu neuer Zuversicht findet, und trägt auf diese Weise ganz erheblich zur vermeintlichen Rettung des Heims bei. Die letzte Folge endet allerdings mit einem Schock, der viele Zuschauer konsterniert zurücklassen wird. Sollte Grote die Serie nicht fortsetzen dürfen – eine entsprechende Entscheidung steht noch aus –, wäre der Cliffhanger-Schluss in höchstem Maße unbefriedigend. SWR Fernsehen zeigt „Der letzte Wille“ vom 2. bis 4. Oktober um 20.15 Uhr in Doppelfolgen. Die Serie steht ab dem 25. September komplett in der ARD-Mediathek.