Glaubt man den Autoren des Films „Der gute Göring“, war Albert Göring schlagfertig. Wie lange man sich wohl nicht gesehen habe, fragt Hermann Göring. „Es müsste 20 bis 30 Orden her sein“, antwortet der jüngere Bruder spöttisch, auf die immer üppiger ausgestattete Uniform des Reichskommissars für Luftfahrt und führenden Nationalsozialisten anspielend. Albert Göring war allerdings auch nicht frei von Eitelkeit. Auf den Original-Fotos sieht man einen groß gewachsenen, schlanken Mann mit hoher Halbglatze, Schnurrbart und Zigaretten-Spitze im Mund. Er führte drei Ehen und hatte noch verschiedene Affären, war wohl ein charmanter, weltläufiger Typ und gewiss kein Nationalsozialist. Er habe rund 1000 Menschen das Leben gerettet, heißt es am Ende des Films. Seit drei Jahren prüft die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem den Antrag, ihn als „Gerechten unter den Völkern“ auszuzeichnen.
Albert Göring schritt bei Misshandlungen von Juden in Wien ein, half Kollegen und Freunden bei der Emigration oder forderte als Exportchef der Skoda-Werke Arbeiter aus dem KZ Theresienstadt an, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Sein Name war dabei hilfreich; nach dem Krieg war „Göring“ dagegen ein Makel. Albert lebte nach 1945 in bescheidenen Verhältnissen und starb 1966 in München. Seltsam, dass seine Biografie so lange unbeachtet blieb. „In den 1960er Jahren wollte sich in Deutschland niemand für ihn interessieren. Und so fand seine Geschichte über erstaunliche Umwege zu uns, mit einer schier unglaublichen Verspätung“, schreibt Produzentin Sandra Maischberger im Presseheft. Erst 1998 erinnerte eine britische Film-Doku an den unbekannten Göring; es folgten weitere Veröffentlichungen, darunter ein Buch des Australiers Williams Hastings Burke und Artikel im „Spiegel“.
Nach „Ein Blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt“ haben sich die Produktionsfirma Vincent TV und Regisseur Kai Christiansen nun für NDR und BR also eine weitere Geschichte eines „unbesungenen Helden“ aus der NS-Zeit vorgenommen. Zeitzeugen-Interviews mit Nachfahren von geretteten Menschen, auch mit seiner Tochter Elisabeth und der Stieftochter Brunhilde Löhner-Fischer, belegen Albert Görings Haltung. Ansonsten gibt es nur wenige Dokumente und fast keine bewegten Bilder von dem Mann, der die österreichische Staatsbürgerschaft annahm und unter anderem als rechte Hand des jüdischen Filmproduzenten Oskar Pilzer arbeitete. Allerdings bringen es Dramaturgie und Besetzung mit sich, dass der böse Göring auch in „Der gute Göring“ übermäßig viel Raum einnimmt. Der Film lebt schließlich vom Spannungsverhältnis der beiden ungleichen Brüder – und spannend ist das allemal. Aber was ist belegt, was nur einigermaßen sicher, was frei erfunden? In Spielszenen wird von fünf Begegnungen erzählt, angefangen beim Begräbnis der Mutter im Jahr 1923 bis zum letzten Treffen 1945 in einem Augsburger Gefängnis, wo beide Brüder gemeinsam von der US-Armee interniert waren. Diese Begegnungen seien verbürgt, „und wir wissen zum Teil sehr genau, was da passiert ist“, sagt Christiansen. Im Film finden sich jedoch kaum Anhaltspunkte, worauf sich das Wissen über das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern gründet: keine Archivfunde, Quellenangaben, Experten- oder Zeitzeugen-Aussagen.
Die dokumentarischen Einschübe zwischen den fünf chronologisch angeordneten Spiel-Akten liefern die historische Einordnung, geraten bisweilen etwas oberflächlich. Zu Hermann Görings Karriere erfährt man bestenfalls das Nötigste, was schlimmstenfalls in solche Szenen mündet: Da sieht man Hermann Göring „beim Entspannen auf der Terrasse“, wie aus dem Off kommentiert wird. Und so geht’s weiter: „Aber Göring zeigt sich auch gerne als Staatsmann – zum Beispiel beim Verkünden antisemitischer Gesetze.“ Dazu wird die Original-Sequenz gezeigt, in der Hermann Göring in seiner Funktion als Reichstagspräsident 1935 die Nürnberger Rassengesetze verkündet. Er „zeigt sich auch gerne als Staatsmann“? Selbst wenn man historische Fakten nur in Nebensätzen abhandeln kann oder mag, selbst wenn man junges Publikum erreichen will, muss man nicht gleich in einen Klein-Fritzchen-Stil verfallen.
Die Spielszenen – fünf kammerspielartige Duelle zwischen den ungleichen Brüdern – nehmen etwa zwei Drittel des Films ein. In den Nebenrollen überzeugt Anna Schudt als Hermann Görings naiv-verblendete Ehefrau Emmy; auch Natalia Wörner ist zu sehen, als Schauspielerin Henny Porten, die einen jüdischen Mann hat und bei einem Abendessen mit den Görings auf Unterstützung hofft. Warum Dokumentarmaterial inszeniert wird, warum zum Beispiel Natalia Wörner in „auf alt gemachten“ Filmausschnitten als Henny Porten auf der Kino-Leinwand agiert, erschließt sich nicht unbedingt, aber solche Spielereien bleiben die Ausnahme.
Dass das Böse eine besondere Faszination hat, bestätigt sich auch hier: Francis Fulton-Smith („Die Spiegel-Affäre“) spielt den Hermann Göring in einer permanent lauernden Haltung, die bedrohlich, unberechenbar und latent gewalttätig wirkt. Zu Beginn, bei der schnarrenden Rede am Grab der Mutter, erscheint diese Figur noch wie hineingepresst in die Uniform und ein bisschen lächerlich, doch das gibt sich. Hermann Göring ist keine Lametta-behängte Witzfigur, und auch das Ordinäre dieses prunksüchtigen Menschen wird nicht besonders ausgestellt. Erschreckend deutlich wird vielmehr seine Lust an der Willkür, an der Macht, über Leben und Tod zu entscheiden („Wer Jude ist, bestimme ich“). Die Brutalität der Nazis vermittelt sich nicht in aufwändigen Spielszenen, sondern spiegelt sich in den verängstigten Gesichtern etwa der Dienerschaft in Carinhall in der Schorfheide und auf Burg Mauterndorf in Österreich, wo die Göring-Brüder auch ihre Jugend verbracht hatten. An diesen Orten hat sich Hermann Göring sein eigenes Reich geschaffen, in dem er mit einem Fingerschnipsen kommandiert und die Dienerschaft zum Erzählen von Hitler-Witzen auffordert. Dazu der Kitsch und der Pomp, die weitläufigen Räume, die Jagd- und Kunstraub-Trophäen an den Wänden – der feingliedrige Albert Göring (Barnaby Metschurat) wirkt in diesen Schlössern namens Pathos und Größenwahn immer ein bisschen verloren.
Metschurat überzeugt dabei gerade durch sein kontrolliertes, bedächtiges Spiel. Albert hält von Anfang an dagegen, mal ironisch, mal klar und offen. Ohne Nazi-Familientratsch (die Frauen, die Frage der Herkunft) geht es zwar nicht, aber die Dialoge sind oft spannend, selten didaktisch und steif. Die Wortgefechte steigern sich bis zu einer Art innerfamiliären Gerichtsverhandlung gegen Albert im Jahr 1944 und enden mit einer Verteidigungstirade von Hermann im Gefängnis 1945. „Die Liste der Menschen, die ich gerettet habe, ist mindestens so lang wie deine“, rechtfertigt er sich. Obwohl Fulton-Smiths Spiel gewiss nichts verniedlicht, kommt Hermann Göring in diesem Film doch ein bisschen zu gut weg, denn als Kern wird womöglich beim Publikum hängen bleiben, dass er sich sowohl für Henny Porten als auch für seinen Bruder Albert eingesetzt hat. Und was soll uns das sagen, dass der Gefangene Hermann Göring am Ende auch noch seinen Kaugummi mit dem Bruder teilt?
Bis zuletzt bestand wohl eine gewisse familiäre Verbundenheit zwischen den beiden. Das wirkt einigermaßen glaubwürdig, aber auf manche Frage hätte man doch gerne noch eine Antwort, zum Beispiel: Plante Albert wirklich ein Attentat auf seinen Bruder, das „Ungeheuer“, wie es in den Gestapo-Akten stand? War Hermann Görings Einfluss am Ende tatsächlich noch groß genug, um den jüngeren Bruder vor der Verhaftung zu bewahren? Könnte sein, dass eine Dokumentation dem Auftrag, an den „guten Göring“ zu erinnern, besser gerecht worden wäre. Oder zumindest ein „Dokumentarspiel“ mit mehr Albert und weniger Hermann.