Judith Kepler, eine zurückgezogen lebende, seltsam traurige Frau, arbeitet als Tatortreinigerin. Den Dreck der anderen wegmachen und hineingezogen werden in die Machenschaften der „Täter“ – das scheint ihr Schicksal zu sein. An ihre frühe Kindheit, ihre Mutter, hat sie keine Erinnerung mehr. Sie weiß nur, dass sie einige Jahre in einem DDR-Kinderheim gelebt hat. Und dann steht sie plötzlich in der Wohnung einer Toten, die ihren Namen trägt, vielleicht ihr Leben gelebt hat, ja, vielleicht sogar ihren Tod gestorben ist. Tags zuvor wollte die andere Judith Kepler Kontakt mit ihr aufnehmen. Jetzt hält die Cleanerin „ihre“ Akte in den Händen, aus der hervorgeht, dass sie als Kind vertauscht wurden. Judith, die eigentlich Christine Sonnenberg heißt, macht sich auf nach Sassnitz, zu ihrem alten Kinderheim. Sie will endlich wissen, wer sie ist. Sie ist durcheinander, realisiert nicht die Tragweite ihrer Recherche. Ausgerechnet der Mann, der sie in der Wohnung der Toten überfallen hat, wird in der Folgezeit ihr Schutzengel: Quirin Kaiserley, einst für den BND aktiv, kocht heute als investigativer Buchautor sein eigenes Süppchen. Er weiß, mit Geheimdiensten ist nicht zu spaßen, und er weiß, dass die Leiche von Judith Kepler nach Schweden überführt werden soll. Bekommt Judith/Christine dort Antworten auf die Frage nach ihrer Identität?
„Zeugin der Toten“ beginnt als Drama. Ein Blick in die Augen von Anna Loos belegt die tiefe Unzufriedenheit der Hauptfigur und verrät einen zunächst nicht näher definierten Schmerz. Nach wenigen Minuten geht es dieser Frau an den Kragen: der Ex-BND-Mann zertrümmert ihr beinahe den Kehlkopf und der Mann im Treppenhaus („Machen Sie sich doch Licht – nicht, dass Ihnen etwas passiert“) ist auch nicht gekommen, um nur Freundlichkeiten mit ihr auszutauschen. Der Film von Thomas Berger kippt in einen Politthriller, die psychologische Grundierung aber bleibt: das ernste Gesicht, die beredten Augen, der starre Körper von Anna Loos sind für den Zuschauer Orientierungssignale der fragezeichenreiche Handlung. Die politische Geschichte ans Private, die Thriller-Spannung eng an die emotionale Hauptfigur zu binden, sind dramaturgische Entscheidungen, die kein Risiko eingehen, gegen die es prinzipiell aber nichts einzuwenden gibt. Vielleicht aber fahren Thomas Berger und sein Kameramann Frank Küpper etwas zu sehr auf diese blond gelockte Frau mit den großen Augen und den – wenn es sein muss – großen Tränen ab, auf diese postfeministische Aura zwischen Trotzköpfchen und „Moralinchen“. Zu viel wird es vor allem, wenn Sätze wie diese hinzukommen: „Dass diese Leute keine Moral haben, das sollten Sie ja wissen. Menschen, die damit ihr Geld verdienen, andere zu belügen, das können keine guten Menschen sein.“
Seine Stärken besitzt dieser ZDF-Fernsehfilm nach dem Roman von Elisabeth Herrmann, wenn die Lakonie (oder ist es Abgebrühtheit?) des Spionage-Profis sich mit der Melancholie der Heldin mischt: Dann verliert der Film seine Schwere und bekommt eine konzentrierte Lässigkeit, von der man sich – trotz oder gerade wegen des Themas deutsch-deutsche Geheimdienstvergangenheit – mehr in den 90 Minuten gewünscht hätte. Ob es gelungen ist, die biografische Wahrheit in einem düsteren Showdown-Finale mit Thriller-Momenten und den altbekannten Stasi-Visagen ans Licht kommen zu lassen, ist fraglich: eine Frage des Geschmacks! Die Schwere des persönlichen Schicksals und die Künstlichkeit und Banalität dieser dramatischen Genre-Situation erzeugen (zumindest in meiner Wahrnehmung) ein seltsames Gefälle, wodurch die Tragik beinahe ins ungewollt Komische kippt.
Das ist schade, weil der Film über 60 Minuten die Spannung hält zwischen der persönlichen und der politischen Geschichte. Mehr und mehr schält sich dabei die Wahrheit heraus. Der Ex-BND-Mann erzählt von seinem Versagen, von der gescheiterten Republikflucht von Judith/Christine und ihrer Mutter, von Ost-und-West-Verfehlungen und einem Verrat. So genau hätte man es am Ende gar nicht wissen müssen. Da werden überflüssige Informationen aus dem Hut gezaubert, neue emotionale Fässer aufgemacht, die der Vita der Hauptfigur, nichts Wesentliches hinzufügen, sondern nur noch einmal das Schreckgespenst Staatssicherheit aufscheinen lassen, das imstande war, Eltern von ihren Kindern zu entfremden. Das aber weiß jedes Kind. Da opfert Berger das Drama & seine Glaubwürdigkeit wohlfeiler Politkolportage und trivialer Räuberpistole. (Text-Stand: 28.2.2013)