Zappelphilipp

Beglau, Zertz, Walther, ADHS und eine Lehrerin, die hinter den Kids verschwindet

Foto: BR / Kerstin Stelter
Foto Rainer Tittelbach

Eine Lehrerin aus Leidenschaft bekommt die Grenzen des (Schul-)Systems zu spüren. Einen Problemschüler mit ADHS will sie in ihre Klasse integrieren und ihm Medikamente ersparen. Bibiana Beglau spielt jene Hannah als Herzlichkeit in Person, als Fleisch gewordene Empathie, stets bereit, für Schüler, Lehrer und Eltern gleichermaßen Verständnis aufzubringen. Silke Zertz und Connie Walther gehen die „Problematik“ des Films nicht monokausal, sondern strukturell an. Wahrnehmungsphilosophie dominiert über Küchenpsychologie und Pädagogik-Einmaleins. „Zappelphilipp“ wirft viele Fragen auf und ist auch filmisch ein „Erlebnis“!

Hannah Winter ist Lehrerin aus Leidenschaft. Während Kollegen sich reihenweise krank melden, versucht sie, ihre Kinder zu verstehen und glaubt auf dem Konflikthof Schule stets an verträgliche Lösungen, die Schülern, Eltern und Lehrern gleichermaßen gerecht werden. Ihrem neuen Problemschüler Fabian bringt sie viel Aufmerksamkeit entgegen. „In meinem Kopf ist ein Gewitterschaltkasten, da wo die anderen ihren Grips haben“, vertraut der Neunjährige seiner Lehrerin an. Der hyperaktive Junge sprengt immer wieder Hannahs Unterricht und wird zur Belastung für die Klasse. Krisensitzungen mit Lehrern und Eltern sind die Folge. Hannah ist überzeugt: „Fabian wird zu integrieren sein.“ Sie jedenfalls tut alles dafür – auch in ihrer Freizeit. Die Mutter von Fabian, zum zweiten Mal verheiratet, schwanger, ist überfordert mit dem Jungen, seinen Vater hat er seit Jahren nicht gesehen. Hannah dagegen ist Single, lebt privat zurückgezogen – sie kann, sie will sich die Zeit für ihre Schüler nehmen. Und dann, an einem Sonntag, steht Fabian mal wieder vor ihrer Tür.

Hauptdarstellerin Bibiana Beglau über ihre Figur:
„Hannah Winter begegnet ihren Schülern weitestgehend ohne Ego, sie agiert bzw. reagiert mehr wie ein Reflektor ihres Umfeldes. In gewisser Weise lässt Hannah sich von den Kindern und ihren Problemen und Wünschen leiten. Sie als eigenständige Person kommt dabei mitunter zu kurz. Sie löst sich fast vollständig auf, verschwindet hinter den Kindern. Eigentlich ist sie selbst eher wie ein Kind, das in schwierige Situationen hinein geschubst wird und ganz menschlich voller Empathie reagiert und versucht, sich in der Erwachsenenwelt zu behaupten.“

Zappelphilipp
Erster Schultag: Fabian schwärmt von seinen Ballerspielen. Bibiana Beglau und Anton Wempner in „Zappelphilipp“ (ARD/BR, 2012)

Ist ADHS eine Krankheit? Müssen Medikamente her, um den Schulfrieden zu wahren? Ist es sinnvoll, wenn der Idealismus eines Lehrers Grenzen sprengt und jede Distanz zu seinen Schutzbefohlenen aufhebt? Wann hört Chancengleichheit in der Schule auf, wann gewinnen die systemischen Zwänge die Oberhand? „Zappelphilipp“ ist offen für solcherlei (alltagspraktische) Fragen. Der Fernsehfilm nach dem lebensklugen Drehbuch von Silke Zertz, mit dem geradezu wahrnehmungsphilosophisch grundierten Regie-Konzept von Connie Walther, der sensibel beobachtenden, ästhetisch beeindruckenden Kamera von Birgit Gudjonsdottir, mit einer narrativen Montage (Sabine Brose), die mehr als nur der Erfüllungsgehilfe der Handlung ist, und einem ebenso außergewöhnlichen Score von Benjamin Fröhlich & Florian Peter erzählt aber sehr viel mehr über das Schüler-, Lehrer- und Elternsein. Feinnervig loten die Macher die problembeladenen Kommunikationen aus. Sie stellen eine erwachsene Figur in den Mittelpunkt, die in ihrem Altruismus einerseits und ihrem Individualismus andererseits einen sehr speziellen Sozialtypus darstellt. Der Film psychologisiert nicht, zeigt aber, weshalb die Lehrerin, die Zeit hat, die offenbar andere nicht haben. Sie, vor allem aber die anderen Figuren haben dezidierte Standpunkte, doch sie werden nicht auf die Funktion von Sprachrohren reduziert.

Regisseurin Connie Walther über die Perspektive des Films:
„Filmisch haben wir nach einem Ausdruck gesucht, die Welt, in der wir leben, abzubilden. Da gab es die Idee mit den Vogelperspektiven: Welchen Abstand braucht man, um die Welt zu erkennen? Welche Geschwindigkeit braucht es? Wir haben die Verkehrsströme verlangsamt, den Ton entfernt. Es ist der Versuch, auszubrechen aus der Normalperspektive.“

ZappelphilippFoto: BR / Kerstin Stelter
Hannahs Kollegin hat die Nerven verloren und Fabian geohrfeigt. Sie wollte eine gute Lehrerin sein. Ihre Zwischenbilanz: „Ich kann Kinder nicht ausstehen.“ Dass diese Szene nicht gezeigt wird, sondern der Vorfall später von der Lehrerin erzählt wird, ist eine vortreffliche Entscheidung: So werden die Auswirkungen betont, wird sehr viel nachhaltiger deutlich, was diese Situation mit der Lehrerin macht.

Wen das Thema von „Zappelphilipp“ wenig interessiert, wen das Milieu eher unangenehm berührt – der könnte dennoch fasziniert sein von diesem hoch sinnlichen Film und von dieser Frau ohne Schutzmembran, die die Schule und ihre Schüler zum Wichtigsten in ihrem Leben erklärt. Es ist eine Frau, die hinter den Bedürfnissen der anderen zu verschwinden scheint, die die „Schuldinge“ auf sich zukommen lässt, die hilft, da ist für andere, die privat wenig aktiv oder für sich fordernd ist: ein zugelaufenes Frettchen ist das Lebewesen, das ihr am nächsten ist – bis Fabian in ihre Klasse kommt. Bibiana Beglau spielt jene Hannah Winter als Herzlichkeit in Person, als Fleisch gewordene Empathie. Und wie die Heldin aufgeht in den Anforderungen des schulischen Alltags, so geht Beglau auf in ihrer Rolle und schenkt dem Film eine Lehrerin, die sich Schüler nur wünschen können – und die dennoch scheitern muss.

Zertz und Walther gehen die „Problematik“ des Films nicht monokausal, sondern strukturell an. „Das Schönste an der Schule war für mich immer der Schulweg“, sagt der Musiklehrer im Film, der seit 15 Jahren eine Rhythmusgruppe betreut. Der Alltagsrhythmus, die Tagesabläufe sind reglementiert. Im großartigen Intro, in dem die Filmemacherin ihre Haltung, die Perspektive des Films, sinnlich verortet, bekommt der Zuschauer einen Eindruck vom Schulweg, wie ihn Grundschüler heute kennen. Aus dem Erlebnisraum wird ein Verkehrsstrom, in den sich der einzelne einpassen muss. Kein Wunder, dass das auch die Bewegungsabläufe der Kinder beeinflusst. Autorin Zertz hätte es sich einfach und die Baller-Videospiele zum Buhmann machen können. Doch sie sucht nach komplexeren Antworten, sie versucht nicht, das Phänomen ADHS mit Hier-und-Jetzt-Lösungen zu belegen. „Ist es nicht sogar selbstverständlich, dass in einem Umfeld von Reizüberflutung auch ganz andere Intelligenzen hervorgebracht werden?“, fragt sich die Autorin. „Wir sprechen stattdessen von einer Krankheit und rufen nach einer Lösung; wir sprechen von einer Verhaltensstörung und nicht von einer Verhältnisstörung.“ (Text-Stand: 5.11.2012)

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Fernsehfilm

BR

Mit Bibiana Beglau, Anton Wempner, Andrea Wenzl, Mehdi Nebbou, Thomas Huber, Jean-Luc Bubert, Ulrike Arnold, Angelika Fink

Kamera: Birgit Gudjonsdottir

Szenenbild: Maximilian Lange

Schnitt: Sabine Brose

Produktionsfirma: Neue Schönhauser Filmproduktion

Drehbuch: Silke Zertz

Regie: Connie Walther

Quote: 3,92 Mio. Zuschauer (12,5% MA)

EA: 05.12.2012 20:15 Uhr | ARD

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