„Böses Blut“: Obacht bei der Wahl der Feinde
Thriller beginnen dieser Tage gern mit einem Ausrufezeichen: Held oder Heldin schweben in größter Gefahr, dann folgt eine Einblendung à la „Drei Wochen zuvor“. Meist erzielt der dramaturgische Kniff seine erhoffte Wirkung, selbst wenn völlig klar ist, dass die Hauptfigur ihren Kopf am Ende aus der Schlinge ziehen kann. Ähnlich effektvoll, aber anspruchsvoller ist es jedoch, zum Auftakt ein Fragezeichen zu setzen, das fortan über den Bildern schwebt: Ein Mann hat offenbar zwei Menschen ermordet. Das scheint ihn aber nicht weiter zu bekümmern; er löffelt seelenruhig seine Suppe und schlägt beiläufig eine lästige Fliege tot.
Die Frage, was dieser Prolog mit dem Rest der Handlung zu tun hat, rückt allerdings erst mal in den Hintergrund, selbst wenn die Musik (Andreas Weidinger) ihren dräuenden Tonfall beibehält: Burkhard „Butsch“ Schulz (Götz Schubert), der nicht immer einfache, aber sympathische männliche Teil des Görlitzer Ermittlerduos Schulz und Delbrück (Yvonne Catterfeld), hat ein echtes Problem, als ihn eine Frau der Vergewaltigung bezichtigt. Als er die Frau zur Rede stellen will, findet er nur ihre Leiche; prompt wird er nun auch noch des Mordes verdächtigt. Kriminaldirektor Grimm (Stephan Grossmann) scheint die Gelegenheit nutzen zu wollen, an dem unbequemen Mitarbeiter ein Exempel zu statuieren. Auch für die Staatsanwältin Anne Konzak (Christina Große) scheint der Fall klar zu sein. Wenn es Delbrück nicht gelingt, die Unschuld des Kollegen zu beweisen, muss er ins Gefängnis.
Foto: Degeto / Maor Waisburd
Die Suche nach dem wahren Täter ist das Hauptthema des Films, aber fast noch interessanter ist eine zweite Ebene. Geschickt greifen Sönke Lars Neuwöhner und Sven S. Poser, die bislang alle „Wolfsland“-Filme geschrieben haben, die losen Enden aus den letzten beiden Episoden („Kein Entkommen“ und „Das Kind vom Finstertor“, 2020) auf: Irgendjemand hat es auf den Hauptkommissar abgesehen; daran lässt auch der Prolog keinen Zweifel. „Man kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl seiner Feinde“, zitiert Kriminaltechniker Böhme (Jan Dose) Oscar Wilde. Clever bieten die Autoren früh einen entsprechenden Verdächtigen an, aber Schwarzbach (Uwe Preuss), Butschs nach Jahrzehnten im Westen zurückgekehrter bester Freund aus der Vorwendezeit, ist viel zu sympathisch für derartige Schurkereien.
Regisseur Alexander Dierbach hat einige sehenswerte „Helen Dorn“-Episoden gedreht und auch dieses Drehbuch sehr dicht umgesetzt. Ein weiterer Reiz der Geschichte liegt in der Entwicklung, die viele Figuren durchlaufen. Grimm zum Beispiel ist zwar regelmäßig der einzige, der sich über seine schlechten Witze amüsiert, und immer der letzte, der die Zusammenhänge durchschaut, aber ansonsten harmlos. Anfangs preist er das Ermittlerduo als Glücksfall für die Görlitzer Polizei, dann verwandelt er sich in einen gnadenlosen Inquisitor; Stephan Grossmann spielt das wie immer famos. Yvonne Catterfeld verkörpert ihre Kommissarin zunächst betont fragil und schutzbedürftig, was entsprechendes Mitgefühl weckt; außerdem leidet Delbrück nach wie vor unter dem vom Ex-Mann verursachten Stalker-Trauma, weshalb sie sich von ihrem Freund Daniel (Christoph Letkowski) trennt. Und dann ist da noch ein immer wiederkehrender Alptraum, der jedes Mal damit endet, dass sie einen Menschen erschießt. Angesichts der Hexenjagd auf den Kollegen geht jedoch ein regelrechter Ruck durch die Polizistin: Delbrück wird wieder zu der starken Frau, die sie eigentlich ist. Dass schließlich Schulz seine große Klappe verliert, ist nicht weiter verwunderlich, doch selbst die nicht nur aufgrund von Rückenproblemen stets steif auftretende Staatsanwältin zeigt ein anderes Gesicht. Der Thriller endet, wie andere beginnen: mit einem Ausrufezeichen.
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„Die traurigen Schwestern“: Auf eigenen Beinen stehen
Seltsamerweise waren die jeweils zweiten „Wolfsland“-Filme bislang stets deutlich schwächer als die ersten. Auch die zehnte Episode beginnt im Unterschied zum fesselnden Thriller „Böses Blut“ wie ein ganz normaler Krimi: Bei einer Polizeikontrolle ist ein Beamter überfahren worden. Für die Kollegen steht der Schuldige schon bald fest. Ungewöhnlich ist die Geschichte zunächst nur wegen des zwielichtigen Bilds, das die uniformierten Polizisten abgeben; die Besetzung mit betont vierschrötigen Schauspielern lässt die Männer selbst wie Ganoven wirken. Viel Zeit widmet das Drehbuch auch den Versuchen von Schulz, nach einer Schussverletzung wieder auf die Beine zu kommen. Der Hauptkommissar ist vorübergehend bei Delbrück untergekommen. Für die Partnerin ist seine Genesung offenbar genauso wichtig wie für ihn selbst: Roter Faden des Drehbuchs ist ein Gespräch zwischen ihr und einer Psychologin (Anja Herden), das interessante Persönlichkeitsmerkmale zu Tage fördert.
Wirklich sehenswert aber wird „Die traurigen Schwestern“, als die drei Titelfiguren ins Spiel kommen, selbst wenn sie zunächst bloß am Rande mitwirken: Rosa Stoltze (Stephanie Amarell) war die Freundin des getöteten Polizisten. Die Familie wird seit einigen Jahren von einem Schicksalsschlag nach dem anderen heimgesucht: Erst ist die Mutter an Krebs gestorben, dann wurden bei Rosas Schwestern nacheinander unheilbare Krankheiten diagnostiziert; beide sitzen im Rollstuhl. Der Vater (Christian Erdmann) trägt die enorme Last, die ihm das Leben aufbürdet, mit bewundernswerter Fassung. Aus Publikumssicht stellt sich trotzdem die Frage, was die Familie mit dem Tod des Polizisten zu tun hat. Dass der Wagen der Stoltzes dem Tatfahrzeug entspricht, kann schließlich purer Zufall sein, zumal die vage Beschreibung – dunkler Kombi – auf tausende Autos zutrifft.
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Regie führte diesmal Hannu Salonen. Der gebürtige Finne hat zuletzt unter anderem die Lappland-Krimiserie „Arctic Circle“ (2018, ZDF) und „Oktoberfest 1900“ (2020, ARD) gedreht. Zuvor hat er „Die Toten vom Bodensee“ (2017/18, ZDF) viermal auf ein Niveau gehoben, das die Reihe seither nicht mehr erreicht hat. Bei seiner „Wolfsland“-Premiere hatte er die ungewöhnliche Idee, die Rollen der beiden kranken Schwestern seinen Töchtern Lilli und Elli anzuvertrauen. Die Mädchen haben mit ihrer besonderen Ausstrahlung großen Anteil daran, dass die Szenen im Haus der Stoltzes zu den fesselndsten des Films gehören; und das nicht erst zum dramatischen Finale. Salonens Inszenierung lässt eine faszinierende Aura entstehen, die bereits beim ersten Besuch Delbrücks den Verdacht erweckt, diese Familie könnte ein düsteres Geheimnis hüten, das weit über den eigentlichen Fall hinausgeht.
Und noch eine junge Frau setzt Akzente. Anna Bachmann hat bereits in der Episode „Das heilige Grab“ (2019) mitgewirkt. Damals ist Emmy Schulz entführt worden, diesmal kehrt sie aus Berlin nach Görlitz zurück, um ihren invaliden Vater zu unterstützen. Außerdem will sie ihr Studium (Philosophie und Theologie) abbrechen und Polizistin werden, um endlich auf eigenen Beinen zu stehen; ein Motiv, das alle wichtigen Figuren dieser Geschichte eint. Das Autorenduo nutzt die biografische Kehrtwende, um einige Schlaglichter auf die Schattenseiten dieses Berufs zu werfen, denn Schulz will ihr diese Idee unbedingt aus dem Kopf schlagen. Er hadert ohnehin mit seinem Dasein, was Schubert ähnlich wie Catterfeld in den Sitzungen die Gelegenheit gibt, andere Seiten der Figur zu zeigen. Salonen und sein männlicher Hauptdarsteller gewinnen den entsprechenden Momenten sogar eine grimmige Heiterkeit ab, wenn Schulz frustriert die Gehhilfe von sich wirft, ohne die Stütze jedoch hilflos ist und prompt drüber stolpert. Der beiläufige Humor ist ohnehin eine Zutat, die dem Film gut tut, und sei es als sarkastische Notiz, die Schulz der Kollegin hinterlässt: „Bin joggen“.