Die Wildhüterin Sara Jahnke (Maria Simon) ist mal wieder auf dem Sprung. Wegen des Todes ihrer Mutter ist sie für ein paar Wochen in ihre alte Heimat zurückgekehrt, die sie nach dem Abitur fluchtartig verlassen hatte. Aus einem letzten Freundschaftsdienst, dem Aufspüren einer verhaltensauffälligen Wölfin, wird eine Rekrutierung als weiblicher Hilfssheriff, nachdem sie im Wald die Leiche einer rumänischen Saisonarbeiterin gefunden hat. Diese weist eine Vielzahl an Bisswunden auf. Es sind aber nicht die im Dorf ungeliebten Wölfe, die die junge Frau töteten: Sie starb eindeutig von Menschenhand. So oder so – Sara ist für den nicht ortskundigen Kommissar Falk Laue (Jacob Matschenz) die ideale Assistentin. Denn sie kennt nicht nur die Gegend, sondern auch die Männer hier, Kai Brandner (Till Wonka), heute Sicherheitschef in der Fleischfabrik, in der die tote Rumänin gearbeitet hat, oder Polizist Andi (Philipp Wirz) und natürlich den Dienststellenleiter Robert Jahnke (Jörg Schüttauf), zugleich ihr Vater, der ihr ständig vorhält, keine Mutter für ihre fast erwachsene Tochter Julia (Anna-Lena Schwing) gewesen zu sein. Sara hat eine tiefsitzende Wut auf ihre alte Heimat und auf die Männer, die hier das Sagen haben. Möglicherweise ist sie doch keine so ideale Assistentin.
Foto: Degeto / Conny Klein
Eine Frau, die lieber mit den Wölfen tanzt als mit den heimischen Männern zu poussieren und die dafür gute Gründe hat, eine Frau, die die unbändige Natur liebt, die in der Wildnis Kanadas das fand, was ihr die brandenburgischen Wälder nicht geben konnten, steht im Zentrum des Fernsehfilms „Wolfsjagd“. Der Titel ist eine Metapher: „Gejagt“ wird hier kein Wolf, sondern die Bestie Mensch. Maria Simon ist für die Rolle dieser introvertierten Wildhüterin, dieses einsilbige Fluchtwesen, das die letzten zwanzig Jahre gelernt hat, alles mit sich selbst auszumachen, die perfekte Besetzung. Zur psychischen Vielschichtigkeit dieser Sara Jahnke, die bis zum Ende etwas Rätselhaftes, Geheimnisvolles, Unausgesprochenes besitzt, kommt bei Simon eine coole Physis hinzu, wodurch man ihr die Figur abnimmt: Wenn sie mit dem Gewehr hantiert, sieht das bei ihr nicht „angelernt“ aus. Achtzehn „Polizeiruf“-Einsätze in zehn Jahren hinterlassen ihre Spuren. Die physische Feuerprobe in Sachen Waffeneinsatz bestand sie allerdings bereits 2010 als Bundeswehrsoldatin im Auslandseinsatz in Peter Keglevics „Kongo“. Ob in diesem außergewöhnlichen Kriegsfilm, dem Vergewaltigungsdrama „Es war einer von uns“ oder dem radikalen Amoklauf-Movie „Silvia S. – Blinde Wut“: Es ist Maria Simons psychophysische „Gesamterscheinung“ inklusive eines Spiels, das dem Menschen seine genuine Black-Box-Wesenheit nicht nimmt, die die besten ihrer Charaktere unvergesslich macht.
Während die Geschichte von „Wolfsjagd“, die als Primetime-Krimi funktionieren muss, bei Dramaturgie und Plot an Grenzen stößt, so ist es vor allem die Inszenierung, die audiovisuelle Atmosphäre, die diesen Film trägt und sich mit der Kraft seiner Hauptdarstellerin verbindet. Der Mensch in der Landschaft: Körpersprache und Filmsprache machen in diesem Krimi-Drama von Jakob Ziemnicki gemeinsame Sache. Schon in der ersten Sequenz im Wald stimmen jedes Bild, jede Geste, jeder Schnitt; Licht, Musik und Ton, das Klicken des ladenden Gewehrs vervollkommnen die authentische Stimmung. Ziemnickis brandenburgische „Polizeiruf“-Episoden „Grenzgänger“ (2015) und „Das Beste für mein Kind“ (2017) mit Simons Olga Lenski kultivierten bereits diesen filmästhetischen Blick. Das Einzelstück nun erlaubt mehr Eigen-Sinn. So treibt es beispielsweise die Wildhüterin, wütend erregt nach dem düster-spannenden Höhepunkt des Films, bei dem sie Dunkelrot sieht, nachts in den dunklen Wald, wo der Zuschauer noch weniger erkennen kann als sie. Erst mit der Verwendung eines Nachtsichtgeräts bekommt das Fast-Schwarzbild wieder Konturen. Wo kein Licht ist, hat kein Licht zu sein. Das gehört zu einem konsequenten Realismus-Konzept genauso dazu wie (einige wenige) Untertitel oder authentisch gebrochenes Deutsch.
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Der Schmerz sitzt tief bei der Hauptfigur. Ansätze zur Linderung gibt es allerdings im Verlauf der Handlung: Wenn der Kommissar, den Jacob Matschenz sympathisch sensibel verkörpert, an ihren wunden Punkten vorsichtig rührt, bekommt er zwar nicht immer eine Antwort, doch mit wachsendem Vertrauen gibt die Heldin mehr von sich preis. Auch eine Annäherung zwischen Sara und ihrer Tochter wird, ja muss es geben. Dass dabei nicht zu viel Gefühl aufkommt, was bei dieser Geschichte nur falsch sein kann, finden auch diese Gespräche im gepflegten Halbdunkel statt. Als Sara Falk Laue ihre Jugendtraumata beichtet, flackert immerhin ein Lagerfeuer. Neben der Inszenierung, dem Miteinander von Bild und Wort, setzt besonders Benjamin Dernbechers Bildgestaltung auf ein attraktives Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz. Dem Blick in die Gesichter folgen nicht selten stimmungsvolle Totalen auf die brandenburgischen Wälder, wo das gefährlichste Raubtier sein Unwesen treibt.
Die aus alldem resultierende Atmosphäre, die der Film atmet, lässt mitunter übersehen, dass „Wolfsjagd“ nicht ganz ohne altbekannte Erzählmuster auskommt. Doch zum Glück wird der Clinch zwischen Jörg Schüttaufs Vater („Sie ist doch deine Tochter“) und der Kanada-Flüchtigen nicht überstrapaziert. Auch der Konflikt zwischen der Heldin und ihrer Tochter wird lange in der Schwebe belassen (da radelt Julia in den Wald, und da ist Saras Sorge um ihre Tochter), bevor er in den besagten Düsterszenen stimmungsvoll eine ehrliche Lösung findet. Angenehm kurz und knackig kommt die Fleisch(fabrik)kritik ins Spiel und damit die Zeitgeist-Gretchenfrage „Wie hältst du’s mit der Ernährung?“. Die Krimi-Auflösung in etlichen – der Spannung wegen – wohl-dosierten Rückblenden mag generell nicht die eleganteste Lösung sein, für „Wolfsjagd“ aber ist sie alternativlos. Mit ihnen kann nicht nur der Mord und das Geflecht der involvierten Personen für den Zuschauer rekapituliert, jene verhängnisvollen Ereignisse rekonstruiert und der Verbleib einer anderen Rumänin geklärt werden, sondern in den Bildern wird genau das nachgereicht, was in den anderen Montagen jener Ereignisse fehlte. Die Rückblenden wirken in diesem Film nicht wie ein Fremdkörper. Dass der Täter allerdings in den beiden finalen Parallelhandlungen zeitgleich entlarvt wird, ist ein dramaturgischer Fauxpas, ein Zufall, der alsbald spannend weginszeniert wird. Denn es geht mächtig zur Sache. Es wird gekämpft, gewürgt, geschossen. Und über das, was übrigbleibt freuen sich Wildschweine und Wölfe. (Text-Stand: 3.9.2023)
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