Wo wir sind, ist oben

Helgi Schmid, Nilam Farooq, Christian Jeltsch. Wahrheit ist, was die Leute glauben

Foto: Degeto / Nik Konietzny
Foto Tilmann P. Gangloff

„Wo wir sind, ist oben“ (Degeto / Isarstraßen Film) ist eine überaus kurzweilige, verschwenderisch gut besetzte, famos gespielte und sich auf hohem filmischen Niveau bewegende Serie mit Helgi Schmid und Nilam Farooq über das fragwürdige Treiben des Lobbywesens im Berliner Politbetrieb: Max und Valerie arbeiten für zwei konkurrierende Agenturen und vertreten dabei jeweils verschiedene Interessen, wobei sie wie Söldner nach Belieben die Seiten wechseln; mal ist er auf der Seite der Guten, mal sie. Schon allein die Dialoge (Chefautor: Grimme-Preisträger Christian Jeltsch) sind preiswürdig. Die acht Folgen bieten eine mitreißende Mischung aus Satire auf den Politbetrieb, Komödie, Romanze.

Die Bezeichnung „Politikkontaktarbeit“ klingt seriös und nicht gerade aufregend. Auch das englische Pendant „Public Affairs“ kaschiert, was sich hinter den beiden Begrifflichkeiten verbirgt: Es geht um Lobbyismus, also die Einflussnahme mächtiger Interessenvertretungen auf politische Entscheidungen; und daher im Zweifelsfall um Milliarden, wenn zum Beispiel ganze Industriezweige betroffen sind. Kein Wunder, dass sich in den Zentren der Macht unzählige Menschen tummeln, die dafür bezahlt werden, an den richtigen Strippen zu ziehen, um die öffentliche Meinung oder das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten zu beeinflussen. Diese Leute, das legt „Wo wir sind, ist oben“ zumindest nahe, sind wie Söldner: weder auf der Seite des Guten noch des Bösen, sondern dort, wo es mehr Geld gibt. Heute engagieren sie sich für weniger Hormone in den Gewässern, morgen für den Abriss eines Dorfes in der Nähe des Lausitzer Kohlereviers; der Arbeitstitel lautete „Chamäleon“.

Wo wir sind, ist obenFoto: Degeto / Nik Konietzny
Büro-Meeting unter vier Augen im kleinwagengroßen Thinktank. Wer Erfolg hat, der kann sich solche Extravaganzen leisten. Die Moral bleibt in der Wanne. Der Agentur-Chef (Jan-Gregor Kremp) und Max Lentor (Helgi Schmid), seine Nummer eins.

Das wirkt erst mal nicht wie ein Komödienstoff, aber die als „Public Affairs“ ursprünglich für Sky geplante und dann während der Postproduktion von der ARD übernommene achtteilige Serie knüpft auf geradezu vorbildliche Weise an die Hollywood-Tradition der „Screwball Comedy“ an: Schon allein die von Christian Jeltsch und seinem Drehbuchteam mit großer Formulierungsfreude verfassten Dialoge sind ein Fest. Das zentrale Duo ist ähnlich preiswürdig. Mit Nilam Farooq, seit ihrer Hauptrolle in Sönke Wortmanns Komödie „Contra“ (2021, am 15. Juli im „Ersten“) auf dem Weg zum Topstar, und Helgi Schmid sind die beiden Rollen ausgezeichnet besetzt: Max Lentor arbeitet für die Berliner Agentur ABC, ist dank seines Charmes, seiner Skrupellosigkeit sowie seiner Beziehung zu Lobby-Veteranin Zickler (Ulrike Kriener) bestens vernetzt und kann jederzeit Plan B oder C aus dem Ärmel schütteln; selbst wenn es sich mitunter bloß um einen frechen Bluff handelt. Valerie Hazard war schon in Brüssel erfolgreich und soll nun die im selben Gebäude wie ABC residierende Hauptstadtfiliale von Pegasus zur Nummer eins des Metiers machen. Fortan agieren und agitieren die beiden permanent auf unterschiedlichen Seiten.

Das klingt nach romantischer Komödie, aber die Aufklärung über die Macht von Bildern, Symbolen und alternativen Fakten („Wahrheit ist, was die Leute glauben“), die Mechanismen von Talkshows sowie der Kampf um die Deutungshoheit tragen eine Menge zur Medien- und Politikkompetenz bei, zumal der mit sämtlichen wichtigen Fernsehpreisen geehrte Jeltsch die jeweiligen Themen nicht bloß als Vorwand für das Privatduell nutzt. Interessant und relevant ist zum Beispiel die intensiv geführte Diskussion um die Einführung von Pflegerobotern. Da sich die einzelnen Aufträge über jeweils mehrere Folgen der ohnehin als Fortsetzungsroman konzipierten Serie erstrecken, gehen die Drehbücher durchaus in die Tiefe, selbst wenn die Auseinandersetzungen wie ein Boxkampf gestaltet sind: Mal gewinnt Max eine Runde, mal Valerie. Dabei schmieden die beiden immer wieder neue und zum Teil höchst ungewöhnliche Allianzen; beim Streit um die Hormone ziehen plötzlich Pharmaindustrie und Feministinnen an einem Strang. Natürlich greifen die mit allen Abwassern gewaschenen Profis auch zu unlauteren Mitteln; eine Leiche findet sich schließlich in jedem Keller. Wie das Metier funktioniert, erläutert Max’ Mentorin mit Hilfe eines einst von Henry Kissinger als Anekdote zum Besten gegebenen Beispiels für Pendeldiplomatie. Als Valerie pro bono die strategische Planung der Bürgerinitiative im Tagebaugebiet übernimmt, während ABC den Braunkohleverband vertritt, macht sie Max’ kleine Schwester (Valerie Stoll) kurzerhand zum Gesicht des Widerstands.

Wo wir sind, ist obenFoto: Degeto / Nik Konietzny
Sogar mit seiner geliebten Schwester (Valerie Stoll) überwirft sich „Söldner“ Max zwischenzeitlich, weil sie von seiner Konkurrentin zum Gesicht eines Bürgerprotests gemacht wird. Weshalb will er seine Heimat plattmachen? Die späte Rache am Vater?

Viel Vergnügen bereiten neben Ideen wie etwa dem kleinwagengroßen Thinktank, in dem der ABC-Chef (Jan-Gregor Kremp) zur Entspannung klassische bundesdeutsche Reden hört, auch die diversen Anspielungen, die nicht alle so offenkundig sind wie ein Heiterkeitsausbruch zur falschen Zeit oder das „Café Albert“, in dem sich die Mächtigen und ihre Hofschranzen gern treffen. Mediales Sprachrohr von Max ist „MachTV“, der Fernsehsender einer großen Verlagsgruppe; Maximilian Grill verkörpert den Moderator mit viel Freude am populistischen Detail. Im Politbetrieb der Serie lassen sich ebenfalls einige Vorbilder erkennen; zwischendurch gibt es zudem einen Hauch von Watergate. Trotz des innerhalb der Serie wiederholt geäußerten Vorwurfs, Lobbyismus untergrabe die Demokratie, ist Jeltsch und seinem Team das Kunststück gelungen, die Figuren nicht restlos zu desavouieren. Natürlich ist ihr Handeln auch von Ehrgeiz und Eitelkeiten geprägt, aber niemand ist komplett korrupt; fast alle folgen gewissen Idealen. Max und Valerie sind sogar ausgesprochen sympathisch. Zumindest bei ihm liegt das auch an der Vorgeschichte: Er stammt aus eben jenem Dorf, das er nun platt machen lassen will; die späte Rache für ein vermeintlich vom tyrannischen Vater (Thorsten Merten) verursachtes Jugendtrauma. Außerdem muss er sich der Intrigen eines internen Konkurrenten (Johannes Allmayer) erwehren.

Die Besetzung ist exzellent, auch die weniger bekannten Mitwirkenden machen ihre Sache ausgezeichnet. Filmisch bewegt sich die Serie zudem auf hohem Niveau. Für die hochwertige Anmutung sorgen nicht nur die diversen E-Scooter-Fahrten durchs Regierungsviertel, sondern auch ein zarter Blaustich (Kamera: Ahmet Tan, Felix Striegel), der sich in den Räumen von ABC zudem im Kostümbild widerspiegelt, nicht jedoch in der eleganten Kleidung von Nilam Farooq. Regie führten der „Pastewka“-geschulte Wolfgang Groos (Folge 1 bis 4), der mit Kinofilmen wie „Enkel für Anfänger“ beziehungsweise „Enkel für Fortgeschrittene“ (2019/2022) und der Serie „Faking Hitler“ (2021, Vox) bewiesen hat, wie vortrefflich er ein Ensemble zu führen weiß, sowie Matthias Koßmehl (5 bis 8). Für Tempo sorgt allerdings in erster Linie Parov Stelars Anteil an der Musik, zumal die Serie in den letzten Folgen, wenn das Vatertrauma in den Vordergrund rückt, etwas an Schwung verliert. Der Sendetermin um 23.50 Uhr (die ARD zeigt alle Folgen am Stück) ist absurd; anders als zum Beispiel die Mystery-Produktion „Die nettesten Menschen der Welt“ (2023) ist „Wo wir sind, ist oben“ definitiv kein Minderheitenprogramm. (Text-Stand: 17.5.2024)

Wo wir sind, ist obenFoto: Degeto / Nik Konietzny
Die Strippenzieherin: Lobby-Veteranin Zickler (Ulrike Kriener) hat Max Lentor einst unter ihre Fittiche genommen. Für ihn ist sie offenbar auch eine Art Familienersatz. Denn mit seinen Eltern, insbesondere seinem Vater, hat der Traumatisierte gebrochen.

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Serie & Mehrteiler

ARD

Mit Helgi Schmid, Nilam Farooq, Jan-Gregor Kremp, Valerie Stoll, Brix Schaumburg, Johannes Allmayer, Maximilian Grill, Simon Pearce, Katharina Schmalenberg, Barbara Philipp, Thorsten Merten, Ronald Kukulies, Frida-Lovisa Hamann, Franz Dinda, Waldemar Kobus

Kamera: Ahmet Tan, Felix Striegel

Szenenbild: Marcel Beranek

Kostüm: Alexander Beck

Schnitt: Marco Pav D’Auria, Laura Wachauf, Andreas Nicolai, Lukas Meissner, Daniela Schramm Moura

Musik: Parov Stelar, Robert Matt.

Soundtrack: Parov Stelar („Voodoo Sonic“, Titelsong)

Redaktion: Carolin Haasis, Christoph Pellander

Produktionsfirma: Isarstraßen Film

Produktion: Felix Fichtner, Susanne Porsche

Headautor*in: Christian Jeltsch

Drehbuch: Christian Jeltsch, Anneke Janssen, Sebastian Bleyl

Regie: Wolfgang Groos, Matthias Koßmehl

EA: 14.06.2024 10:00 Uhr | ARD-Mediathek

weitere EA: 14.06.2024 23:50 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach