Sommer, Herbst 1989, Monate, die deutsche Geschichte schreiben. Tag für Tag neue, unglaubliche Ereignisse. Im August retten sich Hunderte von Ostdeutschen in die DDR-Botschaft in Prag. Über die ungarisch-österreichische Grenze flüchten viele in den Westen. Aber auch bei denen, die nicht weggehen, wächst der Unmut. Die Furcht vor der Stasi hält die Menschen nicht länger davon ab, öffentlich zu demonstrieren. In der Bürgerrechtsbewegung „Neues Forum“ engagieren sich immer mehr Menschen und protestieren friedlich für demokratische Reformen in der DDR. In Leipzig sind bei den legendären Montagsdemonstrationen Woche für Woche mehr Menschen auf den Beinen. Was mit 5000 begann, endet mit einem friedlichen Demonstrationsmarsch am 9. Oktober, bei dem rund 70.000 Ostdeutsche auf die Straße gehen. Ohne Transparente, allein mit ihrer Stimme skandieren sie: „Wir sind das Volk“.
Schon mehrfach sind wie zuletzt in „Das Wunder von Berlin“ die letzten Tage der DDR fürs Fernsehen verfilmt worden. Auch das ostdeutsche Unrechtsregime wurde nicht erst im Zuge von „Das Leben der Anderen“ einer kritischen Musterung unterzogen. Die Filme waren zuletzt eher subjektiv-biografisch gefärbt und erzählten mitunter sehr spezielle Geschichten über die Schattenseiten des Arbeiter- und Bauernstaates. Man erinnere sich an „Die Frau vom Checkpoint Charlie“, an das NVA-Drama „Todesautomatik“ oder „12 heißt: Ich liebe dich“. „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ unternimmt nun den Versuch, die Ereignisse von 1989 aus einer globalen, zeithistorischen Perspektive zu betrachten. Seit „Nikolaikirche“ ist dies der erste große Fernsehfilm, der sich ausführlich mit dem Widerstand in der DDR beschäftigt. Regisseur Thomas Berger und Autorin Silke Zertz haben sich viel vorgenommen. Das Ergebnis ist mehr als achtbar.
Der Sat-1-Zweiteiler entwirft ein großes gesellschaftliches Panorama. Da ist Katja, überzeugend von Anja Kling gespielt, die junge Mutter, die über Ungarn in den goldenen Westen gelangen möchte. Der Fluchtversuch scheitert, sie landet im Stasi-Knast, wo sie mit Foltermethoden („Schlafposition einnehmen!“) zur „Kooperation“ gezwungen werden soll. Da sind die jungen Aktivisten, die nicht länger still halten wollen: Katjas Bruder Micha, sein Freund Dirk, Jule, die Tochter eines Parteibonzen, Lutz und die noch zögerliche Mandy. Mit Matthias Koeberlin, Felicitas Woll und Anna Fischer ein Dream-Team auch von der Besetzung her. Heiner Lauterbachs eiskalt agierender Untersuchungsführer beweist, dass er seine Hausaufgaben in „operativer Psychologie“ gemacht hat. Und Jörg Schüttauf spielt einen Oberst des Innern, der langsam an seinen Vorgesetzten und der Reisegesetzgebung zweifelt. Bereits vor sechs Jahren in den Westen geflüchtet ist Katjas Freund Andreas, verkörpert von Hans-Werner Meyer, der in West-Berlin beim Fernsehen arbeitet und mit den DDR-Oppositionellen in Kontakt steht.
Höhepunkt von „Wir sind das Volk“ sind die Szenen jener gigantischen Leipziger Montagdemo, bei der eine „Chinesische Lösung“ befürchtet wurde. Regisseur Berger sind etliche Gänsehaut-Bilder gelungen. Anja Kling spricht denn auch von einer „gut erzählten Explosionsgeschichte“. Neben ihren Knast-Szenen heben vor allem die Aktionen um die beiden Hobbyfilmer, die jahrelang die Missstände in der DDR dokumentierten und die Videobänder in den Westen schmuggelten, den in seinem historischen Look herausragenden Film über das Herz-Schmerz-Niveau herkömmlicher Event-Movies. Die Kraft des hoch emotionalen Films gipfelt in den Ereignissen des 9. und 10. Oktober. „Die Menschen hatten seit 1953 das erste Mal wieder den Mut, auf die Straße zu gehen“, so der Ex-Aktivist Siegbert Schefke. Seine Bilder aus Leipzig werden 24 Stunden später in den ARD-„Tagesthemen“ gesendet und gehen in die Welt. Einen Monat später fällt die Mauer. Auch das zeigt der Film authentisch: die legendäre Reiseregelungs-PK, die nervenaufreibenden Minuten vor der Maueröffnung, die Angst vor Panik und Schüssen. Schließlich der Sieg des Fernsehens (Schabowskis „Das gilt ab sofort meines Wissens“) über die Bedenken der Betonköpfe am Schlagbaum. (Text-Stand: 6.10.2008)