„Wegen gestern – ich hab nicht irgendwas gemacht, oder?“ Paul (Aaron Hilmer) ist schwer verunsichert. Nicht nur, dass er mit seinem Kater kämpfen muss: Er weiß, dass es Streit gab auf dem Dorffest, mit seiner Freundin Isabella (Antonia Moretti) und deren Ex Adem (Georg Paluza), aber an die Details kann er sich nicht mehr erinnern. Jetzt ist das Objekt seiner Eifersucht tot, Paul hat Blut an seinem T-Shirt, seine rechte Hand ist verletzt, und auch seine Clique vermag es kaum, den Mittzwanziger wiederaufzurichten. Auf seine Frage bekommt er von Pia (Johanna Götting), der Schwester seines besten Freundes, Heiliger (Max Wolter), zwar eine Antwort, „Du sollst dich wie ein Irrer verhalten haben; also so wie immer“; aber die steigert eher noch seine schlimmen Befürchtungen. Und so irrt er ratlos und rastlos durchs Dorf. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Anita (Lou Strenger), die für dieses Tötungsdelikt heimgekehrte Kriminalkommissarin, und ihr Kollege Mike (Sohel Altan Gol) den jungen Mann mit dem Alkoholproblem auf der Rechnung haben. Anita hat durchaus Sympathien für Paul, sie weiß, wie schwer man es in diesem „Scheißkaff“ haben kann, aber sie glaubt ihm nicht, dass er sich nicht mehr an die Tat erinnern kann.
Der ARD-Fernsehfilm „Wer ohne Schuld ist“ von Sabrina Sarabi nach dem Drehbuch von Lilly Bogenberger und David Weichelt erzählt das Drama eines Süchtigen, der unter dem Deckmantel von „Party machen“ dabei ist, sein junges Leben gegen die Wand zu fahren. Das ganz alltägliche „sich abschießen“ ist der Höhepunkt des Wochenendes, und nach dem Filmriss ist vor dem Frühstücksbier. Dieser Alltagstrott wird nun existenzbedrohend gestört durch einen Ausraster im Suff, eine Sekunde absoluten Kontrollverlusts. Das Wissen darüber, was genau in jener Nacht passiert ist und wie es geschah, fehlt nicht nur der Hauptfigur, sondern auch dem Zuschauer. Das steigert das Interesse an diesem Drama, ohne dass aus dem Film ein konventioneller Krimi werden würde. Denn auch die Ermittlerin hat ihr Päckchen zu tragen – sprich: sie hat von den Einheimischen Demütigungen erfahren und bekommt noch heute deren Boshaftigkeit zu spüren. „Die Menschen sehen Sie hier nicht als Autorität“, sagt der Vater des Toten (Özgür Karadeniz) zur Kommissarin. Auch dieses unter den Bewohnern offene Geheimnis und was der Schankwirt Ralf (Maximilian Klas) mit der Sache zu tun hat, wird dem Zuschauer erst nach und nach erzählt.
Die Ingredienzien von „Wer ohne Schuld ist“ mag man von anderen Dorfkrimi-Dramen her kennen. Doch schon auf den ersten Blick unterscheidet sich diese SWR-Produktion, die am Rand der Schwäbischen Alb gedreht wurde, grundlegend von den Geheimniskrämer-Krimi-Dramen, die eine Zeitlang vor allem beim ZDF in Mode waren. Von Beginn an erzählen die Bilder mit, weitgehend aus der subjektiven Perspektive der beiden Hauptfiguren. Während Paul von jener Nacht nur noch Bruchstücke erinnert, die als knallige Sekunden-Flashbacks immer mal wieder in die Handlung schießen, weiß Anita nur noch zu gut, wie sie von der Dorfgemeinschaft gemobbt und erniedrigt wurde. Lou Strenger spielt diesen tiefen Schmerz beiläufig: Ihre Anita versucht, tough zu sein (einmal kann sie sich nicht beherrschen) und doch spürt man dieses latente Beklemmungsgefühl. Und Aaron Hilmer und seine schuldhafte Identifikationsfigur nehmen einen mit in diesen Alptraum, bei dem der Angst- und Katerschweiß aus jeder Pore läuft. Die beiden haben eine gemeinsame Szene, in der noch keiner weiß, wer der andere ist, in der er ihr, einen Schluck aus seiner Weinflasche spendiert. Sie trinken „auf den Scheiß hinter sich lassen“. Ein starker Moment, der andeutet, wie nahe sich die Ermittlerin und der Hauptverdächtige sind. Später kommen sie sich für wenige Sekunden noch näher; das ist mehr als nur ein dramaturgischer Trick, um den Konflikt der Kommissarin zu befeuern.
Das unselige Dorf heißt Dornbach. Der Name ist Programm, er verspricht Landschaft, Natur – und eine blutige Nase. Hier gehört Saufen zur Überlebensstrategie. „Ich bin lustiger, wenn ich betrunken bin, oder das Leben ist lustiger – eins von beidem. Vielleicht mag ich mich auch mehr, wenn ich gesoffen hab“, sagt die kleine Schwester von Pauls bestem Freund, noch keine zwanzig. Der Film verzichtet darauf, Alkoholkonsum mit Moral kurzzuschließen. Aber auch wenn einen das Leben in einem solchen trostlosen Nest geradewegs in den Suff treiben kann, ist doch jeder Einzelne für die Folgen seines Handelns verantwortlich. Der Film erzählt davon fast 90 Minuten. Der Vater des Toten bringt diese Haltung einmal zur Sprache, er geißelt das allgemeine Wegschauen und Beschönigen: „Was sind Sie eigentlich für Eltern? Warum haben Sie nicht rechtzeitig was unternommen?“ Ob es dieser Explizitheit, dem Plädoyer, Farbe zu bekennen, bedarf, das liegt im Auge des Betrachters. Auf Unzurechnungsfähigkeit zu hoffen, kann jedenfalls nicht die Lösung sein – auch wenn der Anti-Held und seine Kumpels das Saufgelage jener Nacht noch einmal „imitieren“ und Paul dabei offenbar die nötige 3,3-Promille-Grenze knackt. Spätestens an diesem Punkt offenbart sich der so unheilvolle Teufelskreis aus Frust, Rausch, Sucht und Kontrollverlust.