Viel, vielleicht manchmal auch zuviel (Kunst-)Nebel liegt über dem kleinen Winzerörtchen Kaltenzell. Hier ist das Spießbürgertum zu Hause, alles ist geordnet und geregelt, die Welt scheint hier noch in Ordnung. Eine verschlossene Welt, die plötzlich aus den Fugen gerät, als ein Eindringling auftaucht, der nichts Böses will, aber dem Bösen begegnet. Man ist schnell drinnen in der Serie „Weinberg“, die Eingangsszene schafft eine Atmosphäre, die sich durch die sechs Folgen zieht. Ein junger Mann (Friedrich Mücke) erwacht mit Platzwunde am Kopf und ohne Gedächtnis zwischen den Reben. Über ihm auf einem Weinstock hängt tot die örtliche Weinkönigin mit Krone und weißem Kleid. Der Fremde stolpert orientierungslos den Berg hinunter, in den düster-geheimnisvollen Ort namens Kaltenzell. Dort will er herausfinden, wer er ist und wer die junge Frau umgebracht hat. Doch die ist quicklebendig. Die Dorfbewohner geben sich wortkarg und verschlossen. Am Ende der ersten Folge ist die Weinkönigin dann doch tot und hängt im Weinberg. So gerät der Mann ohne Gedächtnis unter Tatverdacht und sucht nicht nur nach seiner Identität, sondern – neben zwei (arg blass agierenden) Kommissaren – auch nach dem Mörder. Doch niemand scheint sich an ihn zu erinnern. Dann fällt der Verdacht auf einen weiteren Sonderling. Der junge Adrian Donatius (Jonah Rausch) ist seit dem Tod seiner kleinen Schwester vor Jahren verstummt. Er streift durch den Ort, ist ein stiller Beobachter. War er heimlich verliebt in die Weinkönigin? Hat die unerwiderte Liebe den Jungen zu der grausamen Tat getrieben? Im Dorf bilden sich Fronten, die Polizei tappt im Dunkeln – und dann taucht immer wieder eine mysteriöse Gestalt auf.
Klug und raffiniert gebaut ist die Geschichte von Arne Nolting und Jan Martin Scharf (nach einer Idee von Anke Greifeneder und Philipp Steffens). Die beiden schrieben auch schon die Bücher für die Erfolgsserie „Club der roten Bänder“, die – wie „Weinberg“ – 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. Je weiter die Story fortschreitet, umso nebulöser und verwirrender wird sie für den Zuschauer. Statt langsamer Auflösung folgen immer mehr Rätsel, die der Held bzw. dessen Psyche dem Betrachter aufgeben. Das ist eine große Stärke, das schafft Spannung, das schafft Thrill. Zunächst ist der Mann ohne Gedächtnis der einzig Normale in diesem schrägen Figurenkabinett, das die beiden Regisseure Till Franzen und Jan Martin Scharf in ihrer Mysteryserie vorführen. Doch bald schon kann nicht mal der sich selbst mehr trauen. Und die Zuschauer sowieso nicht. Man weiß nicht mehr, was ist hier fehlerhafte Wahrnehmung des Helden und was die Wahrheit. Mit Horror-Effekten, Mystery-Elementen und teilweise herrlich surreal anmutenden Szenen und Bildern – wie man sie in der Dichte in deutschen Serienproduktionen wohl noch nicht gesehen hat – geht der Mann, der sich kurzerhand nach dem Blick auf ein ausgestopftes Tier Fuchs (Vorname: Joachim) nennt, auf eine geheimnisvolle Reise in die Vergangenheit. Schnell fällt die Kleinbürger-Fassade in Kaltenzell, dann dominieren religiöse Rituale, familiäre Fehden, Angst, Argwohn, Gewalt und Paranoia in dem Ort und sorgen für eine wunderbar frostig-gruselige Atmosphäre.
Friedrich Mücke, bereits einer der Hauptdarsteller in der ersten preisgekrönten TNT-Serie „Add a Friend“, spielt den ahnungslosen Helden glaubhaft und gut austariert. Um ihn herum haben die Serienmacher ein Psycho-Gruselkabinett an schrägen, verschrobenen, üblen und bemitleidenswerten Typen gestellt, das der Serie wahren Glanz verleiht. Bis in die kleinsten Rollen ist die Serie exzellent und exquisit besetzt (Top-Casting: Iris Baumüller). Da ist der selbstherrliche, aggressive Bürgermeister (Arved Birnbaum), seine undurchsichtige Frau (Antje Traue), die schamanistische Friseurin (Anna Böttcher), die gerissene Weingut-Besitzerin (Victoria Trauttmansdorff), der heimlich schwule Kaufmann (Arnd Klawitter), der leidenschaftlich gerne Devotionalien schnitzt und – was für eine herrliche Idee in dieser miefig-muffigen Welt – der vietnamesische Pfarrer (Yung Ngo), der kaum Deutsch kann, die Beichte mit dem Übersetzungscomputer abnimmt und als „Fidschi-Priester“ verachtet wird.
Mystery aus Deutschland funktioniert! Auch deshalb, weil die TNT-Serie – obwohl man sagen kann: „Twin Peaks“ lässt grüßen – keine Kopie einer US-Serie ist, sondern einen ganz eigenen, äußerst reizvollen Charakter besitzt und gekonnt mit deutschen Befindlichkeiten spielt. Diese Geschichte und dieser Ort sind nicht austauschbar. Die Provinz bietet dem Horror eine erstklassige Bühne. Und die Charaktere beinhalten genau das, was in diese Landschaft passt. Die sechs Folgen von „Weinberg“, die ab 9. November 2016 im Free-TV bei Vox zu sehen sind, beweisen so, dass auch deutsche Serienmacher internationale Erzählstandards & erstklassigen Mystery-Thrill hinbekommen. Die Serie um Übernatürliches und die natürlichen Abgründe der menschlichen Psyche ist düster, schräg, schaurig und schön zugleich. Man sollte sie gesehen haben. Ob sie letztlich auch in anderen Ländern funktionieren kann, Kaltenzell (als Drehortkulisse diente das Weindorf Mayschoß an der Ahr) quasi überall ist, wird man sehen. Die internationalen Rechte wurden unter dem Titel „The Valley“ vermarktet und gerade vom US-Unternehmen Critical Content verkauft.
Man sieht „Weinberg“ in jeder Sekunde an, dass hier Geld in die Hand genommen wurde. Die Effekte wirken nicht billig, die Bilder (Kamera: Timo Moritz) sind prägnant und pfiffig, laut Regisseur Franzen habe man jeden Sonnenschein-Moment bewusst herausgeschnitten, um die düstere Atmosphäre nicht aufzulockern. Dieses Dorf zieht den Zuschauer in den Bann, wenn die Macher sechs Folgen lang Geheimnisse, Schuld und Tote ausgraben. Den einen oder anderen zu bedeutungsschwangeren Blick und die zu häufig vorbeiziehenden Nebelschwaden kann man da locker verschmerzen. Und die wohltuend reduzierte, punktgenau eingesetzte und schleichende Spannung erzeugende Musik (Christopher Colaco und Philipp Schaeper) macht diese erstklassige Serie mit dem verwobenen Plot so richtig rund.