Man stelle sich diesen Moment vor: die Eltern tauchen in Festtagskleidung bei der feierlichen Vergabe der Abiturszeugnisse auf und müssen feststellen, dass ihre Tochter nicht nur kein Reifezeugnis bekommt, sondern dass sie auch das ganze letzte Jahr nicht mehr zur Schule gegangen ist. Genau das konnte Jan Martin Scharf in seinem Abitursjahrgang miterleben. „Es war ein tragischer aber auch absurder Moment, dem eine Geschichte voller Dramatik und unterdrückter Gefühle vorausgegangen sein muss“, sagt der Absolvent der Kölner Kunsthochschule für Medien. Diese Geschichte wollten er und Arne Nolting (Ko-Autor, Ko-Regie) erzählen. Eine Geschichte einer 18-Jährigen „mit all der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit, die man empfindet, wenn man im Begriff ist, erwachsen zu werden.“
Ein Jahr vor dem Abitur hat Annika das Klassenziel mal wieder nicht erreicht. Mit dem von den Eltern mehr als von ihr ersehnten Reifezeugnis kann es nichts mehr werden. Alternativen weiß sie nicht, sie weiß nur eines: Ihre Eltern dürfen vorerst nichts von der kläglichen Niederlage erfahren. Sie will zunächst mal keinen Stress – zumindest in den Ferien. Als die Schule beginnt, verpasst sie am ersten Schultag die Chance, ihren Eltern reinen Wein einzuschenken. Und ab da geht nichts mehr. Während der Schulstunden hängt sie in einem abgewrackten Reisebus ab, derweil der Vater ihr Nachhilfe verordnet. Dass der Mathe-Student Uli sie in die Kunst des Kamasutra einführt, ist ein guter Grund mehr, weiter zu lügen. Und noch einer interessiert sich für sie. Doch ihre Lügen belasten die Freundschaft. Die Situation wird immer verfahrener und der Abi-Ball naht.
Mit Plausibilität muss man diesem wunderbaren Debütfilm nicht kommen – auch wenn er nach einem wahren Fall erzählt ist. Das Drehbuch selbst verzichtet auf plakative psychologische Erklärungen. Hier werden weder die Eltern noch die Tochter, die alles andere als eine Bilderbuchfamilie bilden, zu Buhmännern gemacht. Das ist real gelebte Kommunikation, drastisch überhöht und auf Kleinbürger getrimmt. Die Ausgangssituation ist einfach und doch so wirkungsvoll. Vieles ist absehbar und doch fiebert man als Zuschauer ständig mit, wenn die Lüge aufzufliegen droht. Der Unterboden der Story ist tragisch, die Tonlage aber ist oft schreiend komisch.
Auch wenn der Film kein Lehrfilm übers Erwachsenwerden sein will, so macht er doch angenehm beiläufig deutlich, dass die Heldin ihre Liebe zu den Eltern falsch versteht und dass die Angst und die Wut auf sich selbst („Ich krieg nichts auf die Reihe und alle finden mich scheiße“) keine guten Berater sind. Katharina Schüttler – die Kölnerin ist die Frau für die sozialen Schieflagen – spielt das unnachahmlich: zerrissen, aufgewühlt, rastlos, verhuscht. Eine junge Frau, die nicht weiß, was sie will, deren Selbstbewusstsein im Keller ist und die sich deshalb nicht traut und nichts zutraut. „Eine junge Frau, die den Tatsachen nicht ins Auge blickt, weil ihr der Mut fehlt und weil sie an Realitätsverlust leidet“, bringt es Scharf auf den Punkt. Ganz zufällig sei dabei auch „ein Film über die aktuelle Gemütsverfassung in diesem Land“ entstanden.