Mutter und Sohn ein gutes Team – und der Ex-Mann steht vor dem „Neustart“
Segeln ist Teamarbeit, und Caro (Corinna Harfouch) und ihr 18 Jahre alter Sohn Ben (Simon Jensen) sind ein gutes Team, nicht nur auf dem Boot, wie es scheint. Ben geht noch zur Schule, Caro ist beruflich erfolgreich, leitet bei der Polizei mit ihrem Kollegen Oliver (Philipp Hochmair) die Ermittlungen in einem großen Fall. Worum es dabei genau geht, erfährt man nicht – der ARD-Fernsehfilm „Viel zu nah“ (HR) ist kein Krimi, die Krimi-Anleihen sind nur Vehikel in diesem Familiendrama. Auch mit Oliver und den Teamkollegen versteht sich Caro prächtig. Den Arbeitsalltag lockert sie gerne mit einem Witz auf, ihre gute Laune wirkt allerdings manchmal aufgesetzt. Als ihr Ex-Mann Manni (Peter Lohmeyer) berichtet, er werde wieder Vater, reagiert sie zwar nicht gerade hocherfreut, wahrt aber die Fassung und gratuliert. Mannis „Neustart“ findet sie „wunderbar“ und lächelt dabei.
Eine Spinne, die über die Decke krabbelt. Ein Wolfshund, der den Mond anheult.
Petra K. Wagners „Viel zu nah“ erzählt die Geschichte einer Frau um die 50, die sich zunehmend um ihren heranwachsenden Sohn sorgt und die zugleich mit der Angst vor dem Verlassenwerden kämpft. Ein starkes Frauenporträt in einer ruhigen und stimmungsvollen Inszenierung, die sich ganz auf die Hauptdarstellerin verlassen kann. Dass das Tempo insbesondere zu Beginn nicht allzu hoch ist, fällt angesichts von Corinna Harfouchs Schauspielkunst nicht weiter ins Gewicht. Im Gegenteil: Es ist wunderbar, wie sich dieser Fernsehfilm Zeit nimmt, um sich seiner Hauptfigur zu nähern. Nach dem Treffen mit Manni sieht man Caro abends allein zu Haus, ziellos umher gehend, grübelnd, kramend, vergeblich auf Ben wartend. Dann wird sie Ohrenzeugin eines Ehestreits, der Nachbarsjunge ist zu ihr auf den gemeinsamen Balkon geflüchtet. Er könne bei ihr klingeln, wenn was ist, sagt Caro. Weiter passiert nichts, nur eine Spinne krabbelt noch über ihre Wolldecke, und draußen heult der Wolfshund, der ihr zuvor im Park über den Weg gelaufen war. Schauspiel & Atmosphäre statt wortreicher Erklärstrecken. Caros Verunsicherung und Einsamkeit sind zum Greifen nah.
Ist der verpeilte Ben harmlos oder ein bösartiger Nichtsnutz?
Die Figuren machen neugierig, und auch die Geschichte nimmt nun Fahrt auf: Nachts sitzt plötzlich Ben vor der Couch, auf der Caro eingeschlafen ist. Er trägt eine Kunststoff-Maske, eine hässliche Kinder-Maske wie aus einem Horrorfilm, und spielt mit Caros Polizeiwaffe. Die sensible Kamera lässt das Publikum mit Caros Augen auf diesen Ben schauen, der kifft und seltsame Freunde hat, der Schokoriegel an einer Tankstelle klaut und alles dreist abstreitet, zumal sich seine Mutter, die Polizistin, bedingungslos vor ihn stellt. Caro erscheint anfangs naiv, eine Mutter, die lieber wegsieht. Dann geschieht ein Raubüberfall an derselben Tankstelle, begangen von Tätern, die Masken trugen, wie Ben eine hat. Der Tankstellenwärter wird ins Koma geprügelt. Caro beginnt, Akten und Ermittlungen zu manipulieren, um ihren Sohn zu schützen. Auch Simon Jensen macht das an Corinna Harfouchs Seite großartig: Ben kann tatsächlich alles sein, der harmlos-verpeilte Jugendliche, der nur ab und zu ein paar Joints zu viel einschmeißt, oder der bösartige Nichtsnutz, der auf die schiefe Bahn gerät.
Caro leidet unter Panikattacken und hat Angstvisionen
Dass die Hauptfigur ausgerechnet Polizistin ist, kann man angesichts der Krimiflut im Fernsehen natürlich kritisieren. Aber die Frage der Verbrechensaufklärung, die Frage nach den Tätern bei dem Überfall, steht hier immer im Dienst des eigentlichen Themas: der Verunsicherung der Mutter, der Entfremdung von ihrem erwachsen werdenden Sohn. Die Figur wäre zwar auch ohne Panikattacken, Tabletten und Therapie-Sitzungen überzeugend gewesen. So wird zu Beginn etwas überdeutlich auf eine mögliche Erklärung für Caros Verhalten hingewiesen. Zugleich erscheint es dadurch aber plausibler, dass Wagner in der Inszenierung mit Traumbildern spielt. Dass Caro Ben vom Balkongeländer stürzen sieht und einen Moment zu spät kommt, erweist sich als Angstvision, die wohl auch Eltern befällt, die unter keinen Panikattacken leiden. Dass Caro gleich mehrfach, auch tagsüber, einen Wolf oder einen Wolfshund zu sehen glaubt, ist schon weniger eindeutig. Was ist real, was nur Einbildung? Diese Frage bleibt in manchen Szenen offen, und in anderen wird die scheinbar eindeutige Wahrnehmung nachträglich erschüttert. So aufmerksam und genau, wie Armin Alkers Kamera Corinna Harfouchs Mienenspiel verfolgt, so ungewiss und unvollständig sind die Bilder, die sie liefert, wenn das Publikum mit Caros Augen in die Welt blickt. Wölfe als Metapher für innere Angstzustände hat man zuletzt allerdings häufiger gesehen.
Ungewöhnlicher Sound statt musikalische Berieselung
„Viel zu nah“ bleibt trotz einer sich steigernden Spannung bis zum Ende ein leiser Film. Dank sparsamer Dialoge. Dank eines ungewöhnlichen Percussion-Sounds, der gezielt eingesetzt wird, statt als musikalische Soße zur Dauerberieselung über weite Teile der Handlung gekippt zu werden. Und den erschütternden Moment, in dem man glaubt, alles um einen herum verstummt, während man nur noch seinen eigenen Herzschlag hört, den gibt es hier auch. Konsequent das ausdrucksstarke, stille Ende. Wagner gelingt es tatsächlich, soviel Pathos sei bei dieser TV-Perle einmal erlaubt, ihrer Hauptfigur in die Seele zu blicken, (fast) ohne psychologisches Küchenlatein, mitfühlend und differenziert. Die Sorge um den geliebten Sohn, die Angst vor der Einsamkeit dem Publikum eindringlich und ganz unpathetisch zu vermitteln, ist das besondere Verdienst von Corinna Harfouch. Abgesehen von Simon Jensens Ben müssen sich die Nebenrollen klar unterordnen, sind jedoch erstklassig und oft konträr zum Profil der jeweiligen Schauspieler besetzt: Hochmair ist hier ein durch und durch verständnisvoller Polizei-Kollege und mal kein bisschen durchtrieben. Inga Busch ist als die Frau des ins Koma geprügelten Tankwarts mal kein bisschen skurril. Und für Gustav Peter Wöhler, der Caros Chef im Kommissariat spielt und sonst häufig in Biedermann-Rollen besetzt wird, hat sich das Szenenbild ein postmodern-schickes Büro ausgedacht, sparsam eingerichtet, mit Aquarium und einem Schachspiel auf dem Beistelltisch. So entspannt wurde Polizeialltag im deutschen Fernsehen lange nicht mehr inszeniert. (Text-Stand: 17.2.2017)