Es steht nicht zum besten zwischen Vater und Sohn. Jan Stadler (Max Hubacher) wirkt ziemlich reserviert am Rande der Taufe seiner Tochter. Dass er am Abschiedsfest seines Vaters Klemens (Axel Milberg), der in den nächsten Tagen in den Ruhestand geht, nicht teilnehmen kann, liegt allerdings an einer Dienstreise. Auch für Eva Stadler (Elisa Schlott) kommt es überraschend, dass ihr Mann mal wieder nach Brasilien fliegen muss. Dort angekommen, wird Jan Stadler als einziger Passagier mit einem Kleinflugzeug in sein Einsatzgebiet gebracht. Währenddessen besucht Eva, die gerade ihr zweites Kind erwartet, ihren Schwiegervater am letzten Arbeitstag auf der Baustelle. Klemens hat dort offenbar eine leitende Funktion. Zugleich deutet das Baumaterial dezent auf das Thema des Films hin: 350 Tonnen Stahl seien dort verbaut worden, berichtet Klemens stolz. „Das ist schon für die Ewigkeit.“
 Foto: SWR / diwalfilm
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In Zukunft soll klimaschonend „grüner Stahl“ produziert werden. Doch bis Stahlwerke mit aus erneuerbaren Energien gewonnenem Wasserstoff betrieben werden können, dauert es noch eine Weile. Gegenwärtig können Unternehmen klimaschädliche Emissionen durch den Erwerb von CO₂-Zertifikaten ausgleichen. Damit unterstützen sie zum Beispiel Aufforstungsprojekte, deren Wirksamkeit wiederum durch Untersuchungen nachgewiesen werden muss. Dieser Aufgabe widmet sich der Umweltwissenschaftler Jan Stadler in Brasilien, wo das von Weltbank, Europäischer Union und mehreren Regierungen geförderte gigantische Aufforstungsprojekt TreePlanet „das größte zusammenhängende Waldgebiet der Welt“ erschaffen will, wie Kurt Winkler (Benjamin Sadler), der Projektleiter vor Ort, erklärt. Der Film beruht auf Recherchen von Daniel Harrich im brasilianischen Cerrado, der artenreichsten Savanne der Welt, deren Fläche sechsmal so groß ist wie Deutschland. Die biologische Vielfalt dort ist ebenso wie im Amazonas-Regenwald durch Abholzung bedroht, allerdings ist der Cerrado weit weniger bekannt. Über den realen Hintergrund des fiktionalen Szenarios klärt Daniel Harrichs „Verschollen – Die Doku“ (ARD, 12.11.2025, 21:45 Uhr, und in der Medathek) auf.
Das Thema ist komplex, aber der Kern der Spielfilm-Handlung lässt sich mit einem Satz beschreiben: Ein Vater reist in ein fremdes Land und sucht auf eigene Faust nach seinem verschwundenen Sohn. Diese dramaturgische Klarheit ist ebenso hilfreich wie die Besetzung der Hauptrolle. Axel Milberg, der in früheren Harrich-Filmen eher auf der dunklen Seite der Macht zu finden war („Meister des Todes“, „Saat des Terrors“, „Am Abgrund“), darf hier mal die positive Identifikationsfigur des Films geben. Einen besorgten Vater und empathischen Mann, der sich hartnäckig, furchtlos und auch mit einem offenen Ohr für die einheimische Bevölkerung auf die Suche nach seinem Sohn begibt. Milberg spielt diesen „Helden“ mit wildem Vollbart, aber auf typisch Milberg’sche Art: sympathisch, leise, nachdenklich, ohne übertriebenes Pathos oder plakativen Furor. Das bewährt sich nicht zuletzt im emotionalen Finale, das die Geschichte konsequent zu Ende führt. Eindrucksvoll außerdem, wie sich der 1956 geborene Milberg in einigen gewiss physisch herausfordernden Szenen unter den klimatischen Bedingungen Brasiliens schlägt.
 Foto: SWR / diwalfilm
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Natürlich überrascht es nicht, dass Klemens Stadler bei der Suche nach seinem verschwundenen Sohn auf Widerstände stößt und skrupellosen Machenschaften auf die Spur kommt. Das Aufforstungsprojekt, das Jan Stadler zertifizieren soll, weckt als undurchsichtiges Unternehmen von Anfang an Misstrauen. Allerdings vermeidet Daniel Harrich bei der Figurenzeichnung ein allzu plumpes Gut-Böse-Schema. Dafür steht vor allem die von Julia Koschitz gespielte Diana Creutz. Die in Frankfurt residierende Wald-Chefin bei der Weltbank scheint als Jan Stadlers Mentorin aufrichtig besorgt vom Verschwinden des jungen Wissenschaftlers. Creutz bleibt auch in der Folge schwer einzuschätzen. Koschitz gibt jedenfalls keine kaltblütige Managerin, der man zutrauen würde, über Leichen zu gehen. Auch die Besetzung der TreePlanet-Rolle mit Benjamin Sadler und dem GENWA-Chef Jürgen Hartmann (bekannt vor allem als Rechtsmediziner im Stuttgarter „Tatort“) verleiht den Figuren einen gewissen Sympathiebonus. Insbesondere Sadler überzeugt als Portugiesisch sprechender Projektleiter vor Ort. Kurt Winkler rettet einerseits Klemens Stadler vor dem rabiaten Sicherheitspersonal der Plantagen und übt andererseits Druck auf die Dorfbewohner aus.
Die Brasilien-Reisenden werden am Flughafen mit einem „Forest forever“-Schild empfangen. Einheimische sollen allerdings ihre Heimatdörfer verlassen, damit TreePlanet die gigantischen Aufforstungspläne umsetzen kann. Andernorts werden dagegen Bäume gefällt, um die notwendige Holzkohle zu produzieren, mit denen in Brasilien Stahl erzeugt wird. Die spannende Suche des Vaters in der Fremde nach seinem Sohn wird zu einer Suche nach den Hintergründen eines klimapolitischen Skandals. Klemens Stadler stößt nur auf halbherziges Interesse beim Polizeichef des Orts Rio Pardo und stöbert selbst das Hotelzimmer auf, in dem Jan zuletzt untergekommen war. Dass hier die Sprachbarriere nicht wegsynchonisiert wurde, unterstreicht die wirklichkeitsnahe Inszenierung, die auch dank der eindrucksvoll fotografierten Bilder sehenswert ist. Kameramann Walter Harrich, Daniels Vater, bringt dem Publikum eine imposante, bedrohte Landschaft nahe, dokumentiert die endlose Plantage mit den in Reih und Glied stehenden Bäumen und auch die kahlen, gerodeten Flächen. Der Film würdigt überdies den Kampf der indigenen Bevölkerung um ihre Heimat. Mit deren Hilfe kommt Klemens voran, insbesondere dank der resoluten Anwältin Taís Goncalves (Luka Omoto), deren Vater Mato Goncalves (Fernando Rodrigues) sich als Staatsanwalt in Rio Pardo gerade mit der Aufforstung abgefunden zu haben scheint. „Wir müssen extrem vorsichtig sein, sonst sind wir Neokolonialisten“, jammert Diana Creutz über den Protest der Menschen vor Ort. Und tatsächlich hat „Verschollen“ etwas von einer Reise ins „Herz der Finsternis“.
 Foto: SWR / diwalfilm
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