Traurig klingt ihr Geigenspiel. Julia ist 17 Jahre alt, sie ist ein zartes Mädchen, zerbrechlich wie ihr Instrument. Sie ist talentiert, doch ihr Vater zeigt wenig Interesse für ihre musikalische Leidenschaft. Und die Mutter – die Eltern haben sich vor neun Jahren getrennt – hat noch nicht realisiert, dass Julia fast erwachsen ist und man sie nicht mehr bevormunden kann. Als sie mit ihrem neuen Mann nach Berlin gehen will, soll Julia mit. Ein Grund mehr für die Tochter zum Befreiungsschlag auszuholen. Nach einem Streit sucht sie das Weite. In Italien, dort wo die Familie so oft Urlaub machte, spüren die besorgten Eltern sie auf.
Versteinerte Gesichter, eingefrorene Blicke – so begegnen sich noch Jahre nach der Trennung Claudia und Dieter, das Paar, aus dessen Jugendliebe eine Ehe wurde, die scheiterte. Obwohl beide in neuen Beziehungen leben, scheinen die Wunden noch nicht verheilt zu sein. Martina Gedeck und Harald Krassnitzer spielen in „Verlassen“ diese beiden, die spät erkennen, dass sie offenbar keine guten Eltern waren. Der Filmtitel zielt aber nicht nur auf die Tochter, auch Claudia und Dieter wirken bereits in den ersten Szenen seltsam verloren. In Italien steigert sich das zu wütender Hilflosigkeit. Die äußere Ähnlichkeit zwischen Julia und ihrer Großmutter, die sich, als der Vater noch ein Kind war, das Leben nahm, deuten früh an, dass in dem Psycho-Drama von Christoph Stark mehr zu besichtigen ist als die traurigen Überreste einer gescheiterten Ehe. Was da beim manisch untreuen Vater noch so alles im Unterbewussten schlummert, wird nach und nach an die Oberfläche gespült. Sein Kindheitstrauma verleiht dem Film eine weitere familienpsychologisch stimmige Nuance.
Foto: BR / von der Heydt
Einkehr statt Verdrängung. Die Reise nach Italien wird zur Reise in die Vergangenheit. „Verlassen“ ist ein leiser Film, der einen zunehmend in seinen Bann zieht. Wenn sich die Mundwinkel langsam heben, die Anspannung einmal weicht, kommen gelegentlich komische Momente auf. In einer solchen Szene macht die Italienisch sprechende Claudia nach einem Autounfall der Tochter charmant bei der „Policia“ ihren Mann zum reuigen Fahrerflucht-Sünder, derweil er nichts versteht und freundlich nickend daneben sitzt. Amüsant auch, wenn zwei reife Jahrgänge einen Joint rauchen. Im Kampf der beiden Streithähne ist der Zuschauer zunächst hin und her gerissen. Erst jener Joint bringt ihm beide Protagonisten näher.
Christoph Stark gelang nach seinen „Bloch“-Filmen und „Der Vater meiner Schwester“ ein weiteres mustergültiges psychologisches Familiendrama. Intelligent verwebt er die Sorge um die Tochter mit der Sorge um die Beziehungsfähigkeit der Erwachsenen. Er zeigt, wie wenig „die Lieben“ voneinander wissen. Ein Stoff, wie gemacht für Martina Gedeck, die wie keine andere, Innerlichkeit zur edlen, stillen Größe erhebt. Noch ein wenig präsenter ist der oft unterschätzte Harald Krassnitzer. Als sich verständnisvoll gebender Vater, der nur seine Ruhe haben wollte und der jetzt – sich an den Selbstmord seiner Mutter erinnernd – spürt, dass es für Besserung vielleicht zu spät ist, liefert er eine Glanzleistung. (Text-Stand: 11.9.2007)