Aufgeregte Stimmen. Schreie. Dumpfe, schallgedämpfte Geräusche. Klirren. Stille. Dann Augen-Blicke des Entsetzens. Die Küche eines Wiener Chinalokals ist Schauplatz eines Blutbads geworden. Tao ist der einzige Überlebende. Er hat die Killer gesehen. Die Todesangst treibt den kleinen Jungen in die Arme einer Frau, die ihn an seine Mutter erinnert. Sie will zunächst nichts von ihm wissen. Sie versteht ihn nicht – und sie sieht ihn nicht. Ester ist erst seit Kurzem blind. Sie hat eine seltene Augenkrankheit, und sie hat sich mit der Situation noch längst nicht arrangiert. Doch je mehr sie die Umstände versteht, umso mehr ist sie bereit zu helfen. Und dann gerät sie selbst ins Visier der Killer. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei den brutalen Mördern um LKA-Beamte handelt. Der eine ständig auf Koks, der andere ein müder, hochdekorierter Polizist, der vor Jahren den Boss der Russenmafia hinter Gitter brachte und offenbar mittlerweile selbst für dessen Menschenhändlerring arbeitet. Kaum einer bei der Wiener Polizei hegt Verdacht gegen die beiden.
Foto: Sat 1 / Silvia Zeitlinger
Eine spannende Ausgangssituation: zwei Männer in der Doppelfunktion als Killer und als Polizisten; daneben ein ungewöhnliches Helden-Pärchen, ungleich im wahrsten Sinne des Wortes. Keiner weiß, was der andere sagt, die Frau kann ihr Gegenüber nicht einmal sehen und doch verstehen sich die beiden irgendwann: mit dem Herzen. „Verfolgt – Der kleine Zeuge“ zieht viele Register, um das vom Genre her Wohlbekannte abwechslungsreich zu variieren. Autor Christoph Darnstädt gibt der Handlung eine klare Linie mit klassischen Situationen (Flucht, Bedrohung, Doppelspiel, Showdown) und Gefühlslagen (Angst, Suspense). Dass das nie formelhaft wirkt, ist auch der „Machart“ des Films zu verdanken. Die telegene Oberfläche ist das Gleitmittel für die Dramaturgie. Wien lebt. Selbst eine Versteck-Location eröffnet noch einen reizvollen Panorama-Blick auf die Stadt. Darnstädt verzichtet auf allzu viele Neben(kriegs)schauplätze; lieber spielt er Situationen genüsslich aus. Das ist umso leichter, als Regisseur Andreas Senn auf ein gutes Ensemble bauen kann. Marie Zielcke ist ein Gesicht für die besonderen Fälle: ihre großen, in diesem Film leeren Augen sind das emotionale Zentrum dieser deutsch-österreichischen Ko-Produktion, sie sind der Spiegel zur Handlung dieses Angstlust-Thrillers und Spiegel zur Seele einer tragischen Persönlichkeit.
Foto: Sat 1 / Silvia Zeitlinger
„Verfolgt – Der kleine Zeuge“ bewegt sich dennoch 100%ig im Genre: Figuren-Emotionen und Charakter-Zeichnung werden allein vertieft in Richtung auf die spannende Handlung und das eher oberflächliche Liebesmotiv. Dem „Bösewicht“ wird auch ein psychologisches Motiv für sein Handeln zugestanden. Fritz Karl spielt ihn souverän wie gewohnt – ein sehr markanter Antagonist. Erfreulich auch der „realistische“ Umgang mit den Sprachen – bei dieser Geschichte ein Muss. Und wenn mal zu lange die Chinesen untereinander das Wort führen, meldet sich die Heldin zu Wort: „Darf ich auch mal was verstehen!?“ Wie alles im Krimi-Bereich ist auch dieser Plot nicht ganz neu. Einer der besten Suspense-Krimi-Dramen der Filmgeschichte, „Der einzige Zeuge“ mit Harrison Ford, stand Pate. Vor elf Jahren hatte sich Sat 1 schon einmal gekonnt dieses genre-liken Kinderzeugenschutzprogramms angenommen – in „Niko – Nur mein Sohn war Zeuge“ mit Andrea Sawatzki. (Text-Stand: 10.3.2012)