Harry Wörz hat einen Schrank voller Akten. Jede einzelne ist ihm wichtig. Manche Passage kennt er Wort für Wort auswendig. 1997 war der Bauzeichner im Morgengrauen verhaftet worden. Die örtliche Polizei verdächtigte ihn des versuchten Todschlags an seiner Ex-Frau. Wörz beteuerte seine Unschuld, wurde dennoch angeklagt, verurteilt und für Jahre weggesperrt. Ein Alptraum! Viel spricht dafür, dass die Polizei selbst wichtige Spuren verwischte, Verdächtige aus den eigenen Reihen schützte und in Harry Wörz einen geeigneten Sündenbock suchte und fand. Die Fallgeschichte von Harry Wörz liest sich wie ein spektakulärer Polizeithriller. Aber die vielen Prozessakten von Harry Wörz sprechen eine andere, kleinteiligere, staubigere Sprache. Sie handeln nicht von Korpsgeist, sondern von verschwundenen Asservaten. Nicht von Vorverurteilungen, sondern von langwierigen Revisionsverfahren. Eher unwillig hatte die Justiz das Schicksal von Harry Wörz in endlosen und endlos teuren Verfahren wieder und wieder gewendet. Den Justizirrtum verschiedener Kammern räumte Justitia erst mehr als 12 Jahre nach dem ersten Indizienprozess rechtskräftig ein. Da war es längst zu spät, den wahren Schuldigen dingfest zu machen.
Das Leben von Harry Wörz ist am Tag seiner Verhaftung zusammengebrochen und hat sich nie mehr davon erholt. Er ist ein gebrochener, hoch verschuldeter, arbeitsunfähiger Mann, der noch lange für eine angemessene Haftentschädigung kämpfen musste. Für sein Schicksal gibt es letztlich keine Wiedergutmachung. Der Fernsehfilm „Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“ will dennoch eine sein. Denn die Fiktionalisierung seiner Geschichte soll leisten, was kein Gericht leisten konnte: Sie soll Wörz in den Augen einer breiten Öffentlichkeit rehabilitieren. Seine Motivation zur Mitwirkung erklärte Harry Wörz bei einem Settermin während der Dreharbeiten im Sommer 2013: „Immer wieder sagen die Leute, irgendetwas muss doch gewesen sein, dass du verurteilt wurdest. Jetzt soll es auch der Letzte begreifen, was mit mir passiert ist“. Nach all der Willkür, die Wörz erlitten hat, ist es nur allzu verständlich, dass er die Filmemacher nicht einfach so machen lassen wollte. Produzent Sascha Schwingel räumte Wörz, der seine aktenkundige Leidensgeschichte besser kennt als jeder andere, weitreichende Mitsprache beim Buch ein. Auch lud er ihn ein, bei den Dreharbeiten am Set zugegen zu sein.
So folgt der Film nun den Akten in Wörz’ Kleiderschrank und also bis zur Selbstverleugnung dem tatsächlichen Geschehen. Es ist eine filmische Rekonstruktion, die Till Endemann fehlerlos inszeniert, aber es ist hier kein eindringliches kunstvolles Dokumentarspiel gelungen wie zum Beispiel zuletzt Stephan Wagner mit „Der Fall Jakob von Metzler“. Denn die Macher von „Unter Anklage“ verzichteten verblüffenderweise auf etwas, das die Fiktionalisierung dem Dokumentarischen normalerweise voraus hat: auf jegliche Dramatisierung. Natürlich musste das Drehbuch von Holger Joos die Wirklichkeit aus Zeitgründen zusammenstreichen, also wurden Verhandlungsschritte weglassen, mehrere Personen zu einer Figur verschmolzen. Aber die Filmhandlung verdichtet nicht etwa, sie spart nur aus. Die wenigen magischen Momente, auf die das dramaturgische Konzept die Zuschauer hinführt, sind überwiegend vorgefunden Zitate. Wer den 90minütigen SWR-Dokumentarfilm „Leben unter Verdacht – Der Fall Harry Wörz“ (2010) kennt, stellt fest, dass so manche anrührende Dialogpassage eins zu eins aus Interviews des Dokumentarfilmers Gunther Scholz mit Harry Wörz, mit dessen Anwalt oder mit dem Gerichtspsychologen Udo Undeutsch stammt. Scholz, der sein Handwerk bei der DEFA als Spielfilmregisseur lernte, hat sich in den vielen Jahren, in denen Wörz um seine Rehabilitierung kämpfte, drei Mal mit diesem Fall beschäftigt. „Leben unter Verdacht – Der Fall Harry Wörz“ hat er als einen dramatischen, empathischen, persönlichen Film gemacht. Seine Stimme aus dem Off stellt nicht nur Zusammenhänge her oder erläutert Tatort-Rekonstruktionen, sondern berichtet auch über eine gewachsene Freundschaft zu Harry Wörz, dem am Ende der Dreharbeiten ein Exklusivvertrag mit einem anderen Medium den Mund für Scholz verschloss. So deutlich wie selten ist hier die Dokumentation dem Fernsehfilm stilistisch deutlich überlegen. Während Schulz aus verschiedenen Perspektiven erzählen, mal vorgreifen, mal rückblicken kann, arbeite sich die Fiktionalisierung von Till Endemann an der Chronologie der Geschehnissen akribisch, stellenweise sogar mühsam ab.
Während im Dokumentarfilm-Interview der langsame Sprachduktus und die schnörkellose Wortwahl von Wörz etwas Anrührendes haben, wirkt bei seinem Darsteller Rüdiger Klink gerade das Ungekünstelte gekünstelt. 17 Kilogramm hatte der Schauspieler im Vorfeld der Dreharbeiten abgenommen, um in die Haut des „echten“ Harry Wörz zu schlüpfen. Aber er wirkt nicht wie einer, der sich in dieser Figur wohlfühlt. Felix Klare, der den Verteidiger Dr. Gorka verkörpert, hat es da leichter. Das Drehbuch stellt ihm eine Ehefrau (Stefanie Stappenbeck) zur Seite, an der sich nun in fiktiven Dialogen Zweifel, Frust, Ärger, Entmutigung der Anwaltsfigur spiegeln lassen. In diesen wenigen frei erfundenen Szenen findet der Film einen Ausweg aus de Enge der Rekonstruktion, und sofort stellt sich eine andere dramatischere Atmosphäre ein. Eine, die den großen Aufwand einer Verfilmung lohnt.
Natürlich hat dieser Film, eine Ko-Produktion von SWR & Degeto, eine große Sogkraft, aber die bezieht „Unter Anklage – Der Fall Harry Wörz“ ausschließlich aus der Ungeheuerlichkeit der zugrunde liegenden wahren Geschichte. Viel spricht dafür, dass der Fernsehfilm ein Vielfaches an Zuschauern erreicht als der Dokumentarfilm von 2010. Die Intention von Harry Wörz, dass nun auch „der Letzte“ begreift, was mit ihm geschehen ist, lässt sich eigentlich mit einem Dokumentarfilm, der „echte“ Zeitzeugen befragt, besser umsetzen. Aber sie kann in der Primetime natürlich viel besser verbreitet werden. Den Dokumentarfilm von Gunther Scholz zeigte das „Erste“ seinerzeit um erst 22.45 Uhr. (Text-Stand: 29.12.2013)