Fünf Jahre saß Julia Brandt (Emily Cox) unschuldig im Gefängnis. Ein neues Beweismittel gab ihr ein Alibi. Jetzt ist die Studienrätin wieder frei – und sie möchte ihr Leben zurück, an dem Ort, wo ihre Existenz zerbrach. Möglicherweise keine gute Idee. Denn der Mord an ihrem Schüler Felix (Eloi Christ) ist das eine, das andere aber ist der Vorwurf, die Lehrerin habe mit dem 16-Jährigen ein sexuelles Verhältnis gehabt. Julia Brandt bestreitet dies, weigert sich aber bis heute, dazu Stellung zu nehmen. Dies macht sie in der norddeutschen Kleinstadt zur unerwünschten Person. Mit gemischten Gefühlen verfolgen auch ihr Ex-Mann Jan (Jan Krauter) und besonders dessen neue Lebenspartnerin Katrin Voss (Katharina Marie Schubert) diese Entwicklung. Parallel zum privaten Neubeginn muss der Mordfall wieder neu aufgerollt werden. Für Kommissar Max Kauth (Thomas Loibl), den der Unfalltod seiner Kollegin (Christina Große) psychisch schwer mitgenommen hat, und seinen jungen Kollegen (Mehdi Meskar) keine einfache Aufgabe. Die Eltern des toten Jungen (Peter Schneider, Gerti Drassl) schweigen, eine ehemalige Schülerin (Sonja Weißer) wird von einer Zeugin zur Verdächtigen, aber auch Julia Brandts Nachfolgerin im Ehebett und deren Tochter (Luna Jordan) verhalten sich merkwürdig. Es liegt reichlich Wut in der schleswig-holsteinischen Seeluft.
In dem Krimi-Drama „Unschuldig – Der Fall Julia B.“ geht es um zwei Fragen von Schuld: die juristische und die moralische. Die eine ermittelt ein Kommissar, der angeschlagener wirkt als jene Frau, die fünf Jahre im Gefängnis saß und immer noch angefeindet wird. Die andere Frage bleibt bis zur Zielgeraden unbeantwortet. Auf dem Weg dorthin begegnet man als Zuschauer zahlreichen seelisch schwer mitgenommenen Menschen: Zwei Frauen sind liebeskrank, die ältere von ihnen mit Hang zur Neurotikerin; ein Teenager ist suizidgefährdet und scheint seine Wut nicht nur autoaggressiv abreagieren zu wollen; eine Ehe ist vom Schicksal und von Fehltritten zerrüttet, der von Schuldgefühlen aufgefressene Mann dem Alkohol verfallen; der Ex der Freigesprochenen, der voller Scham steckt, weil er nicht an die Unschuld seiner Frau geglaubt hat, sieht sich plötzlich im Dilemma, zwei Frauen zu lieben; selbst die Beziehung zur seit Jahren besten Freundin (Bettina Burchard) von Julia Brandt bekommt zwischenzeitlich den zarten Ruch des Toxischen. Kommunikationsstörungen & psychische Defekte ergeben nicht zwangsläufig auch eine stimmige Psychologie der Geschichte. In „Unschuldig“ scheint es, als würden die Charaktere, die sich Autor Florian Oeller ausgedacht hat, in erster Linie der Dramaturgie gehorchen – sprich: dem Whodunit-Flow verpflichtet sein. Einen Zweiteiler durchweg spannend zu halten, ist kein leichtes Unterfangen. Das jedenfalls kann man diesem Krimi bescheinigen: Der Fall mit seinen multiplen Beziehungen & Interdependenzen ist clever konstruiert. Langeweile kommt nie auf.
Nach und nach geraten fast alle Figuren in den Fokus der Ermittlungen. Wenngleich mit jedem neuen Verdächtigen auch ein bisschen mehr Wahrheit ans Licht kommt, so bleibt doch die narrative Konstruktion ausgesprochen simpel. Die Dramaturgie gibt dem Zuschauer nicht die Möglichkeit, den Film ein Stück weit selbst zu lesen. Das mag im Wesen eines Whodunit liegen. Bei 180 Minuten fühlt man sich allerdings stärker gelenkt und manipuliert als bei einem Krimi-90-Minüter, der per se stärker ritualisiert und durchstrukturiert ist. Das offenere Langformat hat auch Vorteile: So lassen sich zwei gleichwertige Plots problemlos parallel erzählen, der des Neuanfangs und der der Mördersuche. Dieser Perspektivwechsel ist bereichernd, doch man hätte mehr aus den Geschichten machen können. So bleibt einem die Titelfigur – trotz einer gewohnt überzeugenden Emily Cox – seltsam fremd. Von ihrer Selbstbezogenheit, ihrem Egoismus ist die Rede, vertieft wird diese Eigenschaft nicht. Und auch ihr Schweigen, das sie erst am Ende bricht, entpuppt sich als reine Dramaturgie. Brandt beim Joggen zu zeigen, reicht nicht aus, um sie psychologisch verständlich zu machen.
Ungleich faszinierender ist Max Kauth, ein Name, bei dem der Kauz nicht weit ist. Thomas Loibl verkörpert ihn wunderbar: dieses äußerlich so kräftige Mannsbild, das Schwäche und eine Menge Selbstzweifel mit sich herumtragen muss. Ein Kommissar, der schon sein Leben lang Selbstgespräche führt und nun mit den Toten kommuniziert: seiner Kollegin, die viel mehr für ihn war als nur das („Jessica, ich vermisse dich“), und dem ermordeten Teenager, einem charismatischen Ekel, das viele „verzauberte, verführte und eiskalt niedermachte“, wie eines seiner Opfer berichtet. „Ich kenne keinen Menschen, der so einsam ist wie du“, piesackt jener Felix auch den Kommissar. „Sagt ein Toter“, kontert dieser. Die auch visuelle Präsenz der Toten wirkt anfangs wie ein Trick des Autors, um die Solo-Szenen des Einzelgängers lebendiger und stimmungsvoller zu gestalten. Doch diese surrealen Momente geben vor allem auch Aufschluss über Kauths Innenleben und das Wesen der beiden Toten. Gegen Ende des Films öffnet sich Kauth seinem Kollegen, zu dem er mehr und mehr Vertrauen aufbauen konnte, und gibt ihm eine Selbsteinschätzung: „Das sind keine Geister für mich. Das sind Begegnungen, Erscheinungen. Ich kann damit umgehen. Ich weiß, was real ist und was nicht.“
„Unschuldig“ ist ein Spiel auf Zeit, dem viel Zeit zur Verfügung steht, möglicherweise zu viel. Drei Stunden ist ein schwieriges Format für ein solches Krimi-Drama. Die Krimierzählung fließt (über alle kleinen Ungereimtheiten hinweg), der Film nicht. Das liegt gleichermaßen am Drehbuch wie an der Inszenierung. Die Exposition ist hingegen erzählökonomisch nahezu perfekt geschrieben und filmisch umgesetzt. Regisseurin Ute Wieland und Kamerafrau Eeva Fleig haben eindringliche, gut getimte Bilder und exzellente Bildausschnitte gefunden. Später gibt es im Film wenig filmische Atmosphäre, erst recht keinen evidenten Erzählfluss, wie man ihn beispielsweise in der ARD-Reihe „Zielfahnder“ findet. Nach „Unschuldig“ (Buch: Florian Oeller, Regie: Nicolai Rohde) mit Felix Klare ist „Der Fall Julia B.“ der zweite Film dieses Labels, der allerdings stärker an Thomas Bergers handlungsintensive ZDF-Ostsee-Krimi-Zweiteiler mit Heino Ferch erinnert als an den narrativ komplexen und bilderstarken Auftaktfilm aus dem Jahr 2019. Dass „Unschuldig II“ keinen Flow und allenfalls ein paar imposante Einzelbilder als Szenen-Übergänge zu bieten hat, ist auch der Geschichte und ihrer Dramaturgie geschuldet, dieser konventionellen Reihung von Verdächtigen und dem Handlungskleinklein. Dem Krimi-Fan wird das möglicherweise völlig egal sein.