Kommissarin Alexandra „Alex“ Enders (Aylin Tezel) befindet sich auf dem Sprung in den Mutterschutz. Sie ist sich nicht sicher, ob die Entscheidung, das Baby zu bekommen, richtig war. Ihr Beruf und ihre Freiheit sind ihr viel wert. Jetzt aber fügt sie sich, unterstützt von ihrem Lebensgefährten Leif (Sebastian Zimmler), in den neuen Lebensabschnitt. Und dann beginnt ein Alptraum: Alex wird betäubt und entführt, erst nach sechs Tagen taucht sie in einer Wohnsiedlung am Waldrand wieder auf – blutverschmiert, nur mit einem Hemd bekleidet, ohne Babybauch und ohne jede Erinnerung. Mit dem Gedanken, dass ihr Kind wahrscheinlich tot ist, will sie sich nicht abfinden. Wieder zu arbeiten könnte ihr guttun, vermutet ihr Chef Paul Nowak (Özgür Karadeniz) – und so nimmt sie nach drei Monaten unter therapeutischer Aufsicht einer Psychologin (Leslie Malton) den Dienst mit ihren Kollegen (Sascha Nathan, Karl Schaper) wieder auf. Alex ist ein Kämpfer-Typ. Doch bald scheint sie jeden Fall mit ihrem Schicksal zwanghaft in Verbindung zu bringen. Eine Rumänin, die kurz vor ihrer Ermordung ein Kind zur Welt gebracht hat, eine illegale Leihmutterschaft, ein ausgebrannter Camper. Überall erkennt sie Zeichen für Menschenhandel und Kinderraub; sogar ihren Chef und einen Ex-Freund (David Owe) bezieht sie in ihre Verschwörungstheorien ein.
Foto: ZDF / Frank Dicks
Zu hübsch, zu zart, zu zerbrechlich, um eine Polizistin glaubhaft verkörpern zu können – dieses Vorurteil gegenüber Aylin Tezel hat der „Tatort“ Dortmund bereits vor Jahren Lügen gestraft und mit ihrer Hauptrolle als „Die Informantin“ in zwei Degeto-Thrillern, in denen sie eine Art Laien-Agentin im Undercover-Einsatz spielte, konnte das Vorurteil endgültig ad acta gelegt werden. In der sechsteiligen Serie „Unbroken“ verkörpert die 37jährige Schauspielerin jene Kommissarin Alex, die durch die Hölle gegangen ist und immer noch geht. Aber sie will über ihren Schmerz nicht viele Worte machen, nutzt ihn vielmehr als Antrieb für ihre immer wilderen Alleingänge. So vermöbelt sie beispielsweise einen Freier in einem Sex-Club, bricht bei dem Besitzer einer Kinderwunsch-Agentur ein, bedroht Menschen mit der Waffe – und isoliert sich so von ihrem Lebenspartner und ihrem Chef, dem sie bald sehr viel mehr als nur Korruption unterstellt. In einem Kampfsport-Club zeigt sie am deutlichsten, was in ihr steckt: eine leidenschaftliche Fighterin, die sich nicht kleinkriegen lässt, eine junge Frau, die vielleicht tatsächlich weniger als „Mama“ und Familienmensch taugt, die physische Herausforderungen braucht; Sex – wie sich erst spät herausstellt – mit dem Ex statt Kuscheln und Wunden-Lecken im Eigenheim. Nicht nur in diesen Szenen zeigt Tezel, dass sie genau die Richtige ist für diese Rolle. Und dass sie trotz all der Eskapaden ihrer Figur auch die andere Seite besitzt, die Mitleid und Beschützerinstinkte weckt (oder ist das nur die Projektion des männlichen Zuschauers), ist für die emotionale Seite der Rezeption Gold wert.
Foto: ZDF / Frank Dicks
Charakter und Schauspielerin verschmelzen zu einer Hauptfigur, die in den ersten drei der sechs Episoden ihre Umgebung und den Zuschauer fest im Griff hat, obwohl doch dieser traumatisierten Person, deren Aktionismus ein Stück weit aus Schuldgefühlen heraus resultiert, mehr und mehr der Blick für die Realität abhanden zu kommen scheint. Und dann irgendwann in der vierten Episode stellt sich spätestens auch der Betrachter die Frage: Was ist hier eigentlich Wahrheit, und was ist Wahn? Dramaturgisch wird dieser Gegensatz von den Autoren Marc O. Seng („Dark“) und Andreas Linke („Go West – Freiheit um jeden Preis“) clever gelöst. So wird die Frage je nach Verdachtsmoment unterschiedlich beantwortet. Und da es nicht immer (sofort) ein Richtig oder Falsch gibt, halten sich die Autoren narrativ alle Optionen offen, ohne dass man sich als Zuschauer dabei wie die Maus im Käfig vorkommen muss. Die Aufklärung am Ende, für die sich Seng, Linke und Regisseur Andreas Senn („Der Kommissar und die Wut“) erfreulich viel Zeit lassen, erscheint auf den ersten Blick ziemlich abstrus: eine wilde Konstruktion aus psychologischen und biografischen Motiven. Allerdings im Genre betrachtet, dem Mix aus Krimithriller und Psychodrama, und im Rahmen dieser ganz spezifischen Narration mit etlichen Figuren, die multifunktional eingesetzt sind wie beispielsweise der an Alzheimer erkrankte Vater der Heldin, passt diese Erklärung durchaus. Alles geht auf. Alles wird logisch begründet und mit den entsprechenden Rückblenden visuell anschaulich untermauert. Dadurch bekommt die Geschichte ihren „Sinn“, sie verliert allerdings auch innerhalb weniger Minuten ihren Reiz. Gerade war noch alles möglich, jetzt wirkt des Rätsels Lösung fast banal. Eine Crux, die immer auch im Wesen des Genres liegt.
Sieht man von diesem dramaturgischen Ur-Manko des Genres ab, ist „Unbroken“ überaus sehenswert: eine Serie, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen braucht. Die sechs Folgen sind gut strukturiert, die Handlung verläuft zwar chronologisch, wirkt dennoch dicht, und es gibt in den viereinhalb Stunden kaum Leerlauf. Die Spannung ist hoch, beruhigt sich der Handlungsfluss zwischendurch einmal, dann übernimmt die Atmosphäre die Regie. Apropos: Andreas Senn sorgt für einen guten filmischen Flow und für einen eher realistischen Look statt HD-Hochglanz. Das Herzstück ist eine hoch emotionale und entsprechend emotionalisierende Anker-Figur. Die Serie ist bis in die Nebenrollen (André Jung, Leslie Malton) vortrefflich besetzt und Sebastian Zimmler als braver Hausmann und vor allem Özgür Karadeniz („Nachtschicht“) als der freundlich ambivalente, ganz in sich ruhende Chef sind ein wunderbarer Kontrast zur gnadenlosen weiblichen Kampfmaschine. Viele Situationen – typisch für Einzelgänger-Krimis – werden in „Unbroken“ visuell erzählt. Spannungen zwischen den Figuren werden zunächst selten ausagiert, sie bleiben quasi im Raum stehen, während die Heldin weiter ihr Tempo geht. Die Dialogwechsel sind kurz und knackig. Einige Sätze („Wenn ich den Mörder von Krusowitz finde, finde ich mein Kind“) erweisen sich als Schlüssel zum Film, das aber erkennt man erst am Ende. Diese Thriller-Serie um den derzeit in der TV-Fiktion sehr beliebten Mutter-Mythos eignet sich nicht für den Wochenrhythmus. Die Ausstrahlung auf ZDFneo, jeweils drei Folgen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ist der für dieses Serienformat ideale Ausstrahlungsmodus. (Text-Stand: 31.1.2021)