Tonis Welt

Ivo Kortlang, Amber Bongard, Rohde, Senft, Ahrens, Binder. Schluckauf im Gehirn

Foto: RTL+ / Martin Rottenkolber
Foto Tilmann P. Gangloff

Anders als die nach einer spanischen Vorlage entstandene und trotzdem vielfach ausgezeichnete Vox-Serie „Club der roten Bänder” ist das Spin-off „Tonis Welt“ (Bantry Bay) ein Original. Im Gegensatz zu einigen anderen Clubmitgliedern war Titelheld Toni nicht unheilbar krank; er hat das Asperger-Syndrom. Die neue Serie erzählt von seiner „anders normalen“ Beziehung zu Valerie, einer jungen Frau mit Tourette. Die beiden kaufen das Häuschen von Valeries Oma in der pfälzischen Provinz und müssen nun einen gemeinsamen Weg ins Leben finden. Toni wird Assistent des Dorfarztes, der hinter seiner ruppigen Fassade ein großes Herz hat; aber Valerie hat keinen Plan. Die acht Folgen bauen aufeinander auf, sind jedoch in sich abgeschlossen und behandeln jeweils ein eigenes Thema. Autorin Elena Senft erzählt die Geschichten mit großer Warmherzigkeit; die Regisseure Felix Ahrens und Felix Binder haben tunlichst darauf geachtet, die beiden Hauptfiguren nicht vorzuführen. Ivo Kortlang und Amber Bongard verkörpern ihre Rollen ohnehin überaus anrührend und bilden gemeinsam mit Armin Rohde als verbitterter Witwer ein famoses Team.

Als Vox vor einigen Jahren mit „Club der roten Bänder“ (2015) seine erste eigenproduzierte Serie ausgestrahlt hat, ist der Sender mit Auszeichnungen geradezu überschüttet worden. Die Geschichten über sechs Teenager, die in einer Kölner Klinik eine verschworene Clique bilden, galten zu Recht als beste Jugendserie seit Langem; der Mut, damit auch ein erwachsenes Publikum anzusprechen, wurde unter anderen mit dem Grimme-Preis, dem Deutschen Fernsehpreis und dem Robert Geisendörfer Preis belohnt, zumal es Arne Nolting und Jan Martin Scharf gelungen war, ihre Drehbücher vom katalanischen Original zu emanzipieren. Es folgten weitere Staffeln und schließlich sogar ein Kinofilm. Nun zeigt Vox mit „Tonis Welt“ ein sogenanntes Spin-off, das jedoch eine Eigenentwicklung ist. Anders als einige der anderen Clubmitglieder war Toni (Ivo Kortlang), mittlerweile zwanzig, nicht unheilbar krank. Er hat das Asperger-Syndrom, ist ein wandelndes Lexikon, sagt stets, was er denkt, und außerdem immer die Wahrheit, weshalb Geheimnisse bei ihm denkbar schlecht aufgehoben sind. Streng genommen müsste der Ableger „Die Welt von Toni und Valerie“ heißen, denn seine 18jährige Freundin (Amber Bongard hat die Rolle auch schon in der letzten „Club“-Staffel gespielt) ist gleichberechtigte Hauptfigur. Sie hat Tourette, weshalb ihr Gesicht bei Stress zu zucken beginnt; außerdem stößt sie in solchen Momenten allerlei Beleidigungen aus.

Tonis WeltFoto: RTL / Martin Rottenkolber
Toni übt einen guten Einfluss auf den miesepetrigen Dorfarzt Dr. Schmieta (Armin Rohde) aus.

Was auf den ersten Blick wie eine Serie über Menschen mit Handicap wirkt, entpuppt sich als überaus sympathisch erzählte warmherzige Geschichte über zwei junge Erwachsene, die „anders normal“ sind und ihren Weg ins Leben suchen. Toni folgt, frei nach Janosch, der Devise „Wer einen Plan hat, braucht sich vor nichts zu fürchten“, und ist damit das perfekte Pendant zur mitunter verzagten Freundin. Als Valeries Oma stirbt, will ihre Mutter das Haus in der pfälzischen Provinz so schnell wie möglich loswerden. Valerie ist schockiert, sie verbindet mit den Besuchen bei der Großmutter schönste Kindheitserinnerungen. Also nimmt sie gemeinsam mit Toni einen Kredit auf, was angesichts ihrer buchstäblich prekären Situation gar nicht so einfach ist, und kauft das Haus. Das klingt zwar romantisch, aber die Realität hat ihre Tücken, und das nicht nur, weil sich das Gebäude als Bruchbude erweist: Wovon sollen sie leben? Valerie ist durchs Abitur gefallen, Toni wirkt nur bedingt lebenstüchtig. Dieser Eindruck täuscht jedoch: Der junge Mann hat nach seiner Genesung im Krankenhaus als Pfleger gearbeitet, um bei seinen Freunden bleiben zu können; außerdem kann er sehr, sehr hartnäckig sein. Also geht er dem cholerischen Dorfarzt Alfred Schmieta (Armin Rohde)  so lange auf die Nerven, bis der ihn tatsächlich als Assistent einstellt. Fortan trägt sich die Handlung auf zwei Ebenen zu: hier das Leben von Toni und Valerie mit all’ seinen Höhen und Tiefen, dort Tonis Auseinandersetzungen mit dem verbitterten Witwer, den er nach und nach aus seinem Schneckenhaus der Misanthropie befreit.

Die acht Folgen bauen zwar aufeinander auf, sind aber in sich abgeschlossen, weil sie jeweils eine eigene Handlung erzählen: Toni erfährt, dass zum Erwachsenwerden neben einem eigenen Haus und einem gepflanzten Baum angeblich auch ein Kind gehört, und Valerie findet die Idee zunächst gar nicht schlecht, ist aber alsbald genervt von der „Insemination“ nach Fahrplan. Dann stellt die junge Frau, die ihren Vater nie kennengelernt hat, dem örtlichen Chorleiter nach, weil sie überzeugt ist, dass der hilfsbereite Malte (Kai Schumann) nicht nur die Jugendliebe ihrer Mutter, sondern auch ihr Erzeuger ist. Der Tischler wird tatsächlich zu einem väterlichen Freund, weshalb Valerie prompt eifersüchtig wird, als seine in jeder Hinsicht perfekte Tochter (Romina Küper) auftaucht. Weitere Themen sind typische Beziehungsaspekte wie Eifersucht oder die Angst, nicht zu genügen.

Tonis WeltFoto: RTL / Martin Rottenkolber
Die kleinen, berührenden Szenen sind ein Herzstück der Serie. Toni (Ivo Kortlang) und Valerie (Amber Bongard).

Die Geschichten sind überschaubar und mit großer Gelassenheit umgesetzt (Regie: Felix Binder, Felix Ahrens); die Qualität der Serie resultiert vor allem aus der Liebe zu den Figuren. Tatsächlich gelingt es Autorin Elena Senft, komplett ohne Antagonisten auszukommen. Selbst der miesepetrige Landarzt ist im Grunde seines Herzens ein guter Kerl. Wo andere ganze Monologe brauchen, genügt einem wie Armin Rohde ohnehin bloß ein Blick. Liebenswert wird der Doktor, der Toni davon überzeugt, sich um einen Studienplatz in Medizin zu bewerben, damit er eines Tages seine Praxis übernehmen kann, nicht zuletzt durch seine stille Zuneigung zu einer seiner Patientinnen (Marita Breuer). Außerdem hat er Parkinson, ohne Tonis Hilfe könnte er seiner Arbeit gar nicht mehr nachgehen. Auch auf Valeries Handlungs-Ebene gibt es mit Freundin Clara (Lea Zoe Voss) aus Kindheitstagen eine zweite Hauptrolle.

Soundtrack: Eels („Today Is The Day“, „That Look You Give That Guy”), Of Monsters And Men („Dirty Paws”), Kings of Leon („Sex on Fire”), Tame Impala („The Less I Know the Better”), Metronomy („The Look”), Nias („She Would”), Roxette („It Must Have Been Love”), Lizzo („Boys”, „Good As Hell”), The Rolling Stones („You Can’t Always Get What You Want”), Kacey Musgraves („Rainbow”), Talking Heads („And She Was”), Frédéric Chopin („Nocturnes, Op. 9”), Marshmello („Alone”), Taylor Swift („Lover”), Electro Swag („Call Me Maybe”), Lou Bega („Mambo No. 5”), Las Ketchup („Asereje”), „Bangles („Eternal Flame”), The Mamas & the Papas („California Dreamin’”), Spice Girls („Wannabe”), Sara Bareilles („Gravitiy”), Bright Eyes („First Day Of My Life”)

Tonis WeltFoto: RTL / Martin Rottenkolber
Chorleiter Malte (Kai Schumann) füllt die schmerzhafte Vaterlücke. Amber Bongard

Nicht minder wichtig sind jedoch viele kleine Begegnungen am Rande. In einer sehr berührenden Szene holt Toni eine nur noch vor sich hinstarrende alte Frau in die Welt zurück, indem er ihr ein Lied vorsingt, in das sie einstimmt. Valerie ist dagegen nicht zuletzt dank ihrer Tics und ihrer Verbalinjurien – sie nennt das „Schluckauf im Gehirn“ – für die heiteren Elemente zuständig, wobei die beiden Regisseure sorgsam darauf geachtet haben, die Figur nicht vorzuführen. Tatsächlich würde die Rolle auch ohne Tourette funktionieren, zumal die Symptome in den späteren Folgen seltener werden. Ohne die Erkrankung gäbe es aber auch Sätze wie jenen nicht, als der ruppige Doktor die Nachwuchspläne des jungen Paars mit der trockenen Feststellung kommentiert, minus mal minus ergäbe nur in der Mathematik plus. Die Dialoge sind zum Teil ohnehin erfrischend inkorrekt. Die Handlung wiederum ist gelegentlich deftig, was dem Qualitätsniveau der Serie keinen Abbruch tut. Außerdem ist es einfach witzig, wenn sich Valerie, die beim Gartenfest von Claras Eltern dringend pinkeln muss, ausgerechnet dann zwischen die Büsche hockt, als der Gastgeber die Beleuchtung seines neuen Zen-Gartens einschaltet. Von solchen Momenten abgesehen verkörpert Bongard, deren Spiel sich auch mal auf ein Zucken der rechten Augenbraue reduziert, Valerie ohnehin derart anrührend, dass sich die Frage, ob Schauspieler ohne Behinderung solche Rollen verkörpern dürfen, überhaupt nicht stellen dürfte. Für die Liebe der Produktion zum Detail steht nicht zuletzt eine Szene, in der Valerie auf Omas Speicher in einer Kiste mit Kindersachen alte Fotos entdeckt; die Bilder stammen eindeutig aus der Sammlung von Familie Bongard. Valerie ist es auch, die den hoffentlich nur vorläufigen Schlusspunkt setzt: Der Umzug in die Pfalz war ihre Idee, aber anders als Toni, der einen klaren Plan hat, kommen ihr schließlich Zweifel; das Ende der Serie schreit geradezu nach einer Fortsetzung. Vox zeigt „Tonis Welt“ mittwochs in Doppelfolgen.

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RTL, VOX

Mit Ivo Kortlang, Amber Bongard, Armin Rohde, Kai Schumann, Lea Zoë Voss, Romina Küper, Nora Boeckler, Gareth Charles, Marita Breuer, Madeleine Niesche, Daniela Lebang

Kamera: Thomas Schinz

Szenenbild: Götz Harmel

Kostüm: Angi Neis

Schnitt: Nicolás Montaño Goertz (1-4), Anne-Kathrein Thiele (5-8)

Musik: Jens Oettrich

Redaktion: Markus Böhlke

Produktionsfirma: Bantry Bay Productions

Produktion: Gerda Müller

Drehbuch: Elena Senft

Regie: Felix Ahrens, Felix Binder

EA: 14.04.2021 20:15 Uhr | VOX

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