Tod einer Kadettin

Maria Dragus, Baka, Ley. Traum, Selbstüberschätzung, Gruppendruck, Niederlage

Foto: NDR / UFA
Foto Thomas Gehringer

Den Fall der 2008 mutmaßlich in der Nordsee ertrunkenen Gorch-Fock-Kadettin Jenny Böken rollt die ARD mit einem Spielfilm und einer Dokumentation auf. In „Tod einer Kadettin“ will die eindrucksvoll von Maria Dragus gespielte Lilly Borchert trotz gesundheitlicher Probleme unbedingt die Marine-Ausbildung durchstehen, stürzt aber bei einer Nachtwache von Bord des Segelschulschiffs. Das Autoren-Duo Hannah und Raymond Ley behauptet nicht, die Wahrheit zu kennen und bietet vier mögliche Szenarien an. Die Mord-Theorie dramaturgisch in den Vordergrund zu rücken, ist jedoch fragwürdig und rein spekulativ. Ausführlich und lebendig ist die Marine-Ausbildung inszeniert, auch die Gruppendynamik unter den männlichen und weiblichen Kadetten wird zumeist differenziert geschildert. „Tod einer Kadettin“ ist das (Marine-)kritische Protokoll einer Tragödie ohne falsche Seefahrer-Romantik.

Der reale Hintergrund für den NDR-Spielfilm
In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2008, einen Tag vor ihrem 19. Geburtstag, stürzte die Sanitätsoffiziers-Anwärterin Jenny Böken von Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock. Die eingeleitete Suche in der Deutschen Bucht blieb erfolglos, die Leiche der jungen Frau wurde erst elf Tage später gefunden. Die Staatsanwaltschaft Kiel fand keine Gründe für eine Anklageerhebung und stellte das Verfahren im Januar 2009 ein. Alle Versuche der Eltern, eine Wiederaufnahme des Verfahrens und die Zahlung einer Entschädigung zu erreichen, scheiterten. Die genauen Umstände des Todes von Jenny Böken sind jedoch bis heute nicht zweifelsfrei aufgeklärt. Der Fall ist nicht zu verwechseln mit einem weiteren tödlichen Unglück 2010, als eine 25-jährige Kadettin aus der Takelage stürzte. Erst danach wurde die Ausbildung auf der Gorch Fock auf den Prüfstand gestellt und für zwei Jahre ausgesetzt.

Tod einer KadettinFoto: NDR / UFA
Prinz Alif (Derek Nowak), Stefan Müller (Max Schimmelpfennig), Klara Hansen (Lisa Hrdina), Nadja Scheller (Thea Rasche) und Camille Laurent (Rana Farahani) beim Segeleinholen. Lilly seilt sich häufig ab. Ihre Teamfähigkeit wird in Zweifel gezogen.

Ein Journalist an Bord wird zum „Ermittler“
Aus Jenny Böken wird Lilly Borchert. „Dieser Spielfilm ist inspiriert von einer wahren Geschichte. Er erhebt jedoch nicht den Anspruch, die Geschehnisse authentisch wiederzugeben“, heißt es im Abspann von „Tod einer Kadettin“. Das klingt fast ein wenig bescheiden: Viele Details zur Biografie und zu den Vorgängen an Bord stimmen mit dem realen Fall überein. Autorin Hannah Ley sowie Co-Autor und Regisseur Raymond Ley verwenden Zeugen-Aussagen bei der Polizei und Tagebuch-Einträge von Jenny Böken. Sie bauen auch den Radioreporter, der damals auf der Fahrt dabei war, als Schlüsselfigur mit ein. Dieser Hartmut Kerber alias Jörg Hafkemeyer hat die Funktion eines „Ermittlers“, der schon vor dem Tod Lillys Interviews geführt hat und der nun der Wahrheit auf den Grund gehen will. Fragen und Zweifel werden in Selbstgesprächen formuliert und insgesamt vier Versionen eines möglichen Ablaufs als Gedankenspiele Kerbers in Szene gesetzt. Das offen gehaltene Ende ist angemessen – eine abschließende „Wahrheit“ wird in „Tod einer Kadettin“ nicht präsentiert.

Die Mord-Theorie – ein Köder fürs Publikum
Das Lob bedarf aber einer Einschränkung: Die Mord-Version wird anfangs als einzige szenisch ins Spiel gebracht, zwei mögliche Unfall-Szenarien und die Selbstmord-Theorie folgen erst ganz am Schluss. Auch wenn Reporter Kerber diese kalkulierte Zuspitzung abschwächt („War’s ein Unfall? Wurde sie ermordet? Ich weiß es einfach nicht“), sollen die Zuschauer offenbar eine gute Stunde lang rätseln, wer die beiden Personen waren, die Lilly Borchert in dieser rein spekulativen Szene über Bord geworfen haben. Eine solche Dramaturgie ist allein dem Spannungsaufbau geschuldet, ein Köder fürs Publikum. Trotz der Konflikte Lillys mit anderen Kadetten erscheint die Mord-Theorie aber am wenigsten schlüssig. Und dass schließlich der schlimmste Macho unter den Kadetten dazu gehört, ist eine vorhersehbare, simple Auflösung. Warum keine andere, zurückhaltende Art von Inszenierung? Eine Inszenierung, die das tragische Ende gar nicht szenisch ausmalt, sondern nur das zeigt, was man einigermaßen sicher weiß – und was die große Stärke dieses NDR-Fernsehfilms ausmacht: die Geschichte einer ehrgeizigen, aber überforderten jungen Frau in einem männlich dominierten, militärischen Umfeld zu erzählen.

Tod einer KadettinFoto: NDR / UFA
Die erste Übung für die Kadetten an Bord: die Takelage bis zur Spitze hochklettern. Beim Klettern in die Takelage versagen Lillys Durchhalteparolen. Die junge Frau hat ihre Höhenangst unterschätzt.

Raymond Ley ist auch Autor der anschließenden Dokumentation
Die Leys sind ein eingespieltes Team, haben zum Beispiel für „Eine mörderische Entscheidung“ im Jahr 2014 einen Grimme-Preis erhalten. Das Dokudrama arbeitete die Hintergründe des Luftangriffs in der Nähe von Kundus/Afghanistan auf, bei dem mehr als 100 Menschen ums Leben kamen. Damals programmierte die ARD im Anschluss eine Gesprächsrunde bei Anne Will zum Thema. „Tod einer Kadettin“ dagegen ist kein Dokudrama, sondern durchgehend fiktional inszeniert. Anschließend wird die 30-minütige Dokumentation „Der Fall Gorch Fock – Die Geschichte der Jenny Böken“ ausgestrahlt, deren Autor neben Jan Lerch ebenfalls Raymond Ley ist. Hier kommen auch Jennys Eltern und der Journalist Jörg Hafkemeyer zu Wort. „Der Spielfilm erzählt die fiktive Geschichte der Lilly Borchert in seinem sinnlichen Erleben, zeigt Unterwerfung, Chance und Niederlage, zeigt Selbstüberschätzung und Gruppendruck. Die Doku über Jenny Böken hingegen zeigt den faktischen Hintergrund einer großen Tragödie um ein Mädchen, welches nie hätte an Bord der Gorch Fock sein dürfen. Das hat niemand erkannt oder erkennen wollen“, so Raymond Ley.

Abstoßender Umgangston der Männer – keine Frauen-Solidarität
Nach der Einführung mit einer ersten Schilderung der dramatischen Unglücksnacht springt der Film zehn Monate zurück. Lillys Musterung, Lilly mit ihrem Freund beim Baden am See, Lilly bei ihren Eltern, Lilly bei der Ausbildung in der Marineschule. Sorgfältig und differenziert wird dieser Charakter in seinem Lebensumfeld gezeichnet. Die 18-Jährige will Medizin studieren und als Ärztin in der Dritten Welt arbeiten, ist zielstrebig und klug, hat aber körperliche Defizite, klappt schon nach fünf Kniebeugen zusammen und schläft häufig unvermittelt ein. Zudem findet sie dank einer etwas ungeschickten Art nur schwer Zugang zu den anderen. Lilly, eindrucksvoll gespielt von Maria Dragus, wird aber auch in die Außenseiterrolle gedrängt – die Gruppe sucht sich ein Opfer. Manche Charaktere wie der ausschließlich sexistische Sprüche klopfende Kadett Müller (Max Schimmelpfennig) und die stets unfreundliche Kadettin Hansen (Lisa Hrdina) sind etwas flach, doch ansonsten vermeiden die Leys in der Schilderung des Zusammenlebens ein allzu simples Gut-Böse-Schema. Der ordinäre, sexualisierte Umgangston der jungen Männer ist abstoßend, aber auch von weiblicher Seite erhält Lilly nur selten Unterstützung. Keine Spur von Frauen-Solidarität.

Tod einer KadettinFoto: NDR / UFA
Mit 18 hat man noch Träume: Lilly (Maria Dragus) will Ärztin werden und in Krisengebieten arbeiten. Doch die Ausbildung überlebt sie nicht. War es Selbstmord? War es ein Unfall? Ist das Mädchen während ihrer Wache mal wieder eingenickt? Hat sie einen Schreck bekommen? Oder hat jemand nachgeholfen?

Hoher Schauwert an Bord des Dreimasters
Wenn es nach der Ausbildung an Bord der „Johann Kienau“ geht, wie das Segelschulschiff im Film heißt, steigt auch der Schauwert beträchtlich, ohne in naive Seefahrer-Romantik abzugleiten. Die Kamera von Dominik Berg liefert intensive und dynamische Bilder vom Leben an Bord. Gedreht wurde auf dem eindrucksvollen Dreimaster Dar Mlodziezy in der Danziger Bucht. Der Nachteil des Drehortes: Die Synchronisation der polnischen Darsteller ist nicht zu überhören. Lilly Borchert alias Jenny Böken, das legt der Spielfilm tatsächlich nahe, hätte freilich aus gesundheitlichen Gründen gar nicht an Bord gelassen werden dürfen. Lilly redet sich selbst ein, dass sie unbedingt durchhalten müsse. Die Marine hätte sie mehrfach ausbremsen können, versäumt dies aber – eine Fehlerkette mit verhängnisvollen Folgen. Außerdem wird ein Vertuschungsversuch angedeutet: In der Unglücksnacht verschwindet die Notiz einer Sanitätsärztin, die nach einem Gespräch mit Lilly „deutliche Anzeichen einer Depression“ ausgemacht hatte und dies ihrem Vorgesetzten auch meldete.

Kritik an der wenig kooperativen Marine
Bei der Marine stießen die Leys auf eine „eher restriktive Informationspolitik“. Außer einigen Hintergrundgesprächen habe es keine Interviews mit der Marine oder Kadetten der Gorch Fock geben dürfen. „Da kommt man schnell auf die Idee: Die haben etwas zu verbergen“, erklären Raymond und Hannah Ley, die unter ihrem Geburtsnamen Hannah Schröder auch die Marine-Ärztin Dr. Weser spielt. Die stellt zwar nach Untersuchungen in der Marineschule fest, dass Lilly Borchert eigentlich untauglich wäre, gibt aber dem sanften Druck von oben nach und grünes Licht für die weitere Ausbildung an Bord. Aus PR-Gründen, und weil die geforderte Frauenquote erreicht werden muss, sehen die Verantwortlichen über die Probleme ihrer jüngsten Kadettin hinweg. Auch der Kapitän (Harald Schrott) wirkt mäßig interessiert, und Ausbilder Franzen (Alexander Grünberg) stellt Lilly aufgrund ihrer schwachen Leistungen zwar zur Rede, kümmert sich aber nicht weiter. Das Credo beim Militär lautet immer noch: Wer Probleme hat, muss sich halt zusammenreißen, „anpassen“, wie der Kapitän einmal sagt. In der Unglücksnacht befragt er einen seiner Offiziere über die vermisste Lilly. Die habe gelegentliche Disziplinprobleme gehabt, sagt der. Aber auffällig sei sie nicht gewesen, sie sei halt mit durchgefüttert worden – „ist ja nicht die Erste“. Von Frauen an Bord, kritisiert der Film unzweideutig, scheint die Marine nicht viel zu halten. (Text-Stand: 16.3.2017)

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Fernsehfilm

NDR

Mit Maria Dragus, Miroslaw Baka, Harald Schrott, Max Schimmelpfennig, David Hürten, Lola Klamroth, Lisa Hrdina, Thea Rasche, Rana Farahani, Alexander Grünberg, Malik Blumenthal

Kamera: Dominik Berg

Szenenbild: Harald Turzer

Schnitt: Heike Parplies

Produktionsfirma: UFA Fiction

Drehbuch: Hannah Ley, Raymond Ley

Regie: Raymond Ley

Quote: 3,93 Mio. Zuschauer (12,5% MA)

EA: 05.04.2017 20:15 Uhr | ARD

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