Eine Frau zweifelt an ihrem Verstand. Völlig benommen wird sie abgeführt und ihr Schlafzimmer zum Tatort erklärt. Auf ihrem blutverschmierten Bett liegt ein Messer mit ihren Fingerabdrücken und daneben ihr Freund, erstochen, verblutet – offensichtlich eine Beziehungstat. Für Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und vor allem Kommissariatsleiter Schnabel (Martin Brambach) ist der Fall relativ klar. Allein Leonie Winkler (Cornelia Gröschel), die mit jener Sarah Monet (Deniz Orta) vor Jahren eng befreundet war, versucht verzweifelt und wenig professionell, die Kollegen von der Unschuld der bislang einzigen Verdächtigen zu überzeugen. Die Folge: Gorniak muss ohne die Kollegin auskommen. Die Ermittlungen ziehen sich entsprechend hin, auch weil es Probleme mit dem Labor gibt, und weil Sarah offenbar unter Gedächtnisverlust leidet und wenig zur Rekonstruktion der verhängnisvollen Nacht beitragen kann. Möglicherweise sind K.o.-Topfen im Spiel gewesen. Das würde die Beweisführung nicht leichter machen. Aber auch Eifersucht könnte ein Tötungsmotiv gewesen sein. Selbst Leo Winkler muss irgendwann erkennen: „Da ist nichts, was für dich spricht.“ Und Sarah quält vor allem die Ungewissheit: „Was ist, wenn ich’s doch war. Ich hab ja keine Ahnung. Ich war ja nicht dabei. Mein Körper vielleicht, aber ich nicht.“
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Der „Tatort – Was ihr nicht seht“ erzählt von dem Alptraum einer jungen Frau. Fehlende Erinnerung, Wahrnehmung beziehungsweise Nicht-Wahrnehmung spielen dabei eine auch für den Fall entscheidende Rolle. Der Kontrollverlust, die Angstattacken und die Schuldgefühle der Hauptverdächtigen werden nicht nur körperlich dargestellt und verbal erklärt, sondern sie werden von Regisseurin/Koautorin Lena Stahl („Wunderschön“) und Kameramann Kaspar Kaven sehr eindrucksvoll visualisiert. Das zeigt sich gleich in der ersten Szene, die mit kurzen Großeinstellungen beginnt und mit dem totalen Top-Shot auf das blutdurchtränkte Bett endet. Oder wenig später, als sich die junge Frau intimen ärztlichen Untersuchungen unterziehen muss. Hier schafft es die Inszenierung, Distanz und Mitgefühl gleichermaßen herzustellen. Dieses Montage-Prinzip, aus Details ein Gesamtbild zu erstellen, zieht sich durch den gesamten Film und spiegelt so ein bisschen auch die Puzzle-Arbeit beim Ermitteln in einem Krimi wider. Außerdem ermöglicht eine solche Inszenierung in Kombination mit entsprechenden Toneffekten die subjektive Erzählperspektive über die Handlungsebene hinaus auch ästhetisch im Film zu verankern. Als gegen Ende die Erinnerungsflashs jener Nacht bei Sarah Monet wieder aufflackern, ahnt man als Zuschauer, dass es jetzt bei ihr klick gemacht hat. Das Gezeigte bleibt auch hier auschnitthaft, subjektiv und höchst suggestiv.
Die Filmsprache bewirkt in diesem „Tatort“ umso mehr, weil Handlung und Personal überschaubar sind. Zoe Valks beispielsweise hat nur eine einzige Einstellung im Film: Sie schaut in die Kamera, ihre Figur erzählt, zwei Minuten lang; das geht absolut unter die Haut. Anders markant die Szene, in der ein blaues Auge einer jungen Frau (Muriel Wimmer) die Eifersucht der Verdächtigen belegt. Es liegt generell eine hohe Intensität über den 90 Minuten. Obwohl die erste halbe Stunde von sich hinziehenden Ermittlungen geprägt ist, bleibt trotz des Wartens auf den toxikologischen Bericht das Anspannungslevel beim Zuschauen hoch. Das konventionelle Drei-Ermittler-drei-Positionen-Spielchen differenziert sich erfreulicherweise alsbald aus, Winklers aufschlussreiche Alleingänge als Privatperson, die Recherchen im Club, in dem die Verdächtige tanzen war, und das Aufspüren der Affäre des Getöteten werden flüssig und angenehm beiläufig dem Krimi-Fan präsentiert, bevor die Labor-Ergebnisse für eine erste narrative Wende sorgen. Sarah Monet bleibt die Hauptverdächtige, muss allerdings vorübergehend aus der Untersuchungshaft entlassen werden, eine Fußfessel als Begleiter. Jetzt kann ihr Winkler endlich Gutes tun, macht sich dann allerdings der Fluchthilfe verdächtig.
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Im Schlussdrittel von „Was ihr nicht seht“ geht es schließlich mächtig zur Sache. Nach einer knappen Stunde ist man als Zuschauer im Bilde – bis zum Hochspannungsfinale mit Entführung, Lichtausfall im Keller und Schüsse im Dunkeln aber müssen die Kommissare noch ein paar Ermittlungserfolge erzielen. Dabei besticht der Film durch eine angenehme Kombination aus markanten Dialogpassagen und wortlosen Szenen, deren Sinn man sich selbst erschließen kann und in denen die Borowski-„Tatorte“ vom „stillen Gast“ Pate gestanden haben könnten. So kommt der Film (Buch: Peter Dommaschk, Ralf Leuther, Lena Stahl) mit vergleichsweise wenig Krimi-Erklär-Rhetorik aus. Was bei diesem sehr überzeugenden „Tatort“ besonders in Erinnerung bleiben wird, sind neben der visuellen Kraft der Bilder, die Blicke der Episodenhauptdarstellerin Deniz Orta, die den Schmerz und die Verzweiflung auf ihr Gesicht legt und wohltuend wenig Worte machen muss. Aber auch das Thema sexualisierte Gewalt und das traumatisch-tragische Grundmotiv des Abwesend-Anwesend-Seins während eines Verbrechens, um das dieser „Tatort“ kreist, werden hier verhandelt, spannend im Genre-Gewand, aber auch mit einer unbedingten Nachhaltigkeit, schrecklich und sehr berührend. (Text-Stand: 17.10.2023)