Andrea Sawatzki muss allein an den „Tatort“. Jörg Schüttauf bekommt bald auch sein Solo. In „Waffenschwestern“ ist Dellwo auf Beamtenaustausch in München. Ein Ersatz steht nicht bereit. Entsprechend überarbeitet ist Charlotte Sänger. Als sie in einen Amoklauf gerät, kann sie nicht abdrücken. Ein Streifenpolizist übernimmt den tödlichen Job. Dass die junge Frau, die es darauf abgesehen hat, von der Polizei erschossen zu werden, nur Platzpatronen in der Waffe hatte, spielt keine Rolle. Die Kommissarin wird beurlaubt. „Es ist fraglich, ob du noch diensttauglich an der Waffe bist“, sagt ihr Vorgesetzter und schickt sie zum Psychologen.
„Sie hatten immer eine Ausrede, sich nicht mit ihrem eigenen Leben auseinandersetzen zu müssen“, analysiert der Seelendoktor Sängers Vermeidungsstrategie, „Ihre Eltern haben Sie so verloren. Machen Sie nur so weiter!“ Und sie macht weiter. Aber anders, als man es von ihr gewohnt ist. Sie recherchiert auf eigene Faust und trifft dabei auf eine Gruppe von Frauen, die mit riesigen Kampfbögen auf die Jagd gehen und historische Duelle mit scharfen Waffen und in kugelsicheren Westen nachstellen. Mit der Anführerin der spleenigen Waffennarren freundet sich Charlotte Sänger an. Die Frau, deren Halbschwester jene Selbstmordkandidatin war, die die Kommissarin nicht erschießen konnte, weiß um Sängers Identität als Polizistin. Ist ihre Zuneigung echt oder spielt sie nur ein Spiel mit der Kommissarin, die ahnt, dass diese Flintenweiber etwas mit einer brutalen Bankraubserie zu tun haben könnten?
Wie ein Western mit Frauen nimmt sich der neue HR-„Tatort“ aus. Für Sawatzki, deren Kommissarin das Schießen bislang Dellwo überließ, war das Neuland. „Charlotte hegt eigentlich eine große Aversion gegen Waffen“, so die Schauspielerin, „sie hat Angst, wenn es darauf ankommt, nicht richtig mit einer Waffe umgehen zu können.“ In „Waffenschwestern“ wird sie mit dieser und anderen Ängsten konfrontiert. Die Geschichte zwingt sie dazu, sich zu ändern. Für Sawatzki hieß das: Schießtraining. „Wir waren zugange mit verschiedenen Waffen, mit allem Drum und Dran, Ohrenschützern und Sichtschutz, scharfer Munition und Platzpatronen.“ Es habe ihr großen Spaß gemacht. Auch Sänger erliegt nach und nach einer gewissen Faszination. Mit Hilfe ihrer „Waffenschwester“ geht sie zunehmend aus sich heraus, entdeckt neue Seiten an sich. Sogar einen One-Night-Stand gönnt sich die emotional so sehr zugeknöpfte Polizistin. Charlotte Sänger emanzipiert sich von Dellwo.
Dieser HR-„Tatort“ entfernt sich weit vom Realismus-getränkten TV-Krimi. Leichen pflastern Charlotte Sängers Weg. Auch zwei Polizisten werden getötet, davon sogar einer aus dem Basis-Team. Man hat gelegentlich den Eindruck, als ob mit diesem Fall doch ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen werde. Doch dann sieht man Andrea Sawatzki und Nina Kronjäger als ihr finsteres Spiegelbild bei ihrem zwischen Freundschaft und Feindschaft pendelnden Spiel – und man ist gebannt von einer unkonventionellen Spannung, die sich im Detail entzündet. „Waffenschwestern“ lebt gleichermaßen von den Charakteren wie von der Lust am Genre. Was die Psychologie der Kommissarin angeht, ist der Film vom Nachwuchs-Duo Florian Schwarz (Regie) und Michael Proehl (Buch) ein ebenso intelligentes wie effektvolles Spiel mit den Möglichkeiten einer etablierten Figur. (Text-Stand: 14.12.2008)