Gefesselt und geknebelt wird Dr. Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) vom Steg in den Fluss geschubst. Der Stuttgarter Rechtsmediziner kämpft um sein Leben – vergeblich, wie es scheint. Aber die Unterwasserbilder sind auf irritierende Weise schön, und dazu rezitiert eine männliche Stimme das Gedicht „Lethe“ von Conrad Ferdinand Meyer: „Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten / Einen Nachen ohne Ruder zieh’n…“ Also alles nur ein Traum? Jedenfalls dient die Szene als Metapher: Lethe ist in der griechischen Mythologie ein Fluss in der Unterwelt. Wer daraus trinkt, verliert alle seine Erinnerungen. „Herz, ich trinke dir Vergessen zu“, dichtete der Schweizer Meyer Ende des 19. Jahrhunderts. Und in der Stuttgarter „Tatort“-Episode „Vergebung“ zeigt sich, dass auch der Dr. Vogt bereits vom Wasser des Vergessens gekostet haben dürfte.
Vorerst sieht man ihn aber quicklebendig als Babysitter seines kleinen Enkels. Wegen eines frisch eingelieferten Leichnams eilt der Rechtsmediziner ins Institut – und erkennt in dem rothaarigen, vollbärtigen Toten, den man aus dem Neckar gefischt hat, seinen Jugendfreund Mathias Döbele. Vogt wirkt verunsichert und besorgt. Er verschweigt den Kommissaren Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare), dass er den Toten kennt. Und auch dass Mathias sich kurz vor seinem Tod nach langen Jahren wieder bei ihm, dem Jugendfreund Daniel, telefonisch gemeldet hatte. Allerdings fliegt Vogts Geheimniskrämerei bald auf, weil ihn die Witwe Sandra Döbele (Ulrike C. Tscharre) im Beisein der Kommissare persönlich begrüßt. Das Versteckspiel mit seinen vertrauten Kollegen – immerhin spielt Hartmann den Dr. Vogt seit Amtsantritt von Lannert und Bootz 2008 – ist damit aber noch nicht beendet.
Langsam tastet sich das Drehbuch von Katharina Adler und Rudi Gaul über Rückblenden in einen erotisch aufgeladenen Teenager-Sommer Anfang der 1980er Jahre und zum Kern der Geschichte vor. Da werden auch nostalgische Gefühle geweckt, mit dem entsprechend ausgestatteten Jugendzimmer Vogts, mit Bravo, Praline und Zauberwürfel, mit Musik von der Kassette (Bonnie Tyler, David Bowie), mit Fotografien aus der Friedensbewegung. In jeder Wohnung, die Lannert bei seiner Tour durch die Nachbarschaft betritt, sieht er ein Bild von jener legendären, 108 Kilometer langen Menschenkette, die im Oktober 1983 Neu-Ulm mit Stuttgart verband. So verankert war der Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss im schwäbischen Bürgertum. Aufregende Zeiten also in jeder Hinsicht.
Mit dem Fall hat der politisch-historische Exkurs direkt nichts zu tun, aber natürlich gibt es Ereignisse, die in der kollektiven Erinnerung geblieben sind – und andere, die lieber verdrängt werden. Auch Rechtsmediziner Daniel Vogt scheint anfangs nicht mehr als eine dunkle Ahnung zu haben. Zudem wird er von starken Gefühlen zu Sandra, seiner unerfüllten Liebe aus Jugendtagen, heimgesucht. Das bringt ihn zusätzlich in Konflikt mit den laufenden Ermittlungen, denn die Kommissare verdächtigen die Altenpflegerin, für die es ein leichtes wäre, ihrem an Krebs erkrankten Mann eine tödliche Dosis Medikamente zu verabreichen. Da Vogts Verhalten immer eine Spur rätselhaft bleibt, ist das Publikum den Kommissaren nur soviel voraus, dass es nicht auf Kosten der Spannung geht. Die einzigartige Ausstrahlung von Paul Faßnacht trägt das Finale in einem unter und über Wasser schön und stimmungsvoll fotografierten Film. Schauspieler Jürgen Hartmann hat mit seiner Idee den Anstoß zu diesem auf unspektakuläre Weise rundum gelungenen Krimi gegeben und damit „seine“ Figur aus dem engen Korsett der typischen Rechtsmedizin-Szenen und Aufschneider-Dialoge befreit – wenigstens für diese eine Episode. (Text-Stand: 25.10.2023)