Tatort – Unklare Lage

Nemec, Wachtveitl, Hofer, Holger Joos, Pia Strietmann. Ausnahmezustand in München

Foto: BR / Hagen Keller
Foto Rainer Tittelbach

Der „Tatort – Unklare Lage“ (BR / X Filme Creative Pool) zeigt, wie nach einem Tötungs-Delikt, bei dem ein terroristischer Hintergrund nicht auszuschließen ist, der Polizeiapparat in Gang gesetzt wird und sich viele Stunden in höchster Alarmbereitschaft befindet. Denn nachdem der Täter vom SEK erschossen wurde, ist nicht auszuschließen, dass ein zweiter Mann eine Amoktat planen könnte. Der Film von Pia Strietmann nach dem Drehbuch von Holger Joos simuliert sehr realistisch einen solchen städtischen Ausnahmezustand. Weil möglicherweise Schlimmeres verhindert werden muss, bleibt für die Frage nach dem Warum der Tat keine Zeit. Für eine Analyse ist die Faktenlage ohnehin viel zu unsicher. In den ersten 45 Minuten drückt sich die allgemeine Verunsicherung in einem extrem hohen Erzähltempo aus. Die Exposition ist perfekt: ein Wunderwerk der Montage. In der zweiten Hälfte gibt es immer mal wieder entlastende Ruhemomente in Form von Befragungen, Vernehmungen, Gesprächen – das ist alles filmästhetisch sehr einfalls- & abwechslungsreich gestaltet. Dieser „Tatort“ hinterfragt Schaulust & Selbstinszenierung der Gesellschaft, ohne diese Phänomene selbst billig zu bedienen. Nach 90 Minuten ist man geschafft, aber nicht erschlagen.

In einem Linienbus ist ein Fahrkartenkontrolleur erschossen worden. Der Täter, ein junger Mann, kann fliehen. Nachdem das SEK seinen Einsatz hatte, beginnen Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Batic (Miroslav Nemec) mit den Befragungen der Fahrgäste, während Kalli (Ferdinand Hofer) in den Führungsstab in der Einsatzzentrale berufen wird, in der der operative Leiter (Axel Pape) und die Staatsanwältin (Corinna Kirchhoff) versuchen, einen klaren Kopf zu bewahren. Wenig später wird der Täter vom SEK gestellt und erschossen. Nachdem die Identität des Mannes geklärt werden konnte, hat die Frage, ob es einen zweiten Mann gab, oberste Priorität. Denn jener Tom Scheuer hatte neben jeder Menge Ersatzmagazinen ein Funkgerät im Rucksack. Die Aussagen der Businsassen sind allerdings widersprüchlich. Mittlerweile ist auch die Medien-Maschinerie angesprungen, besonders heiß laufen die sozialen Netzwerke. Gerüchte machen die Runde. Spekulationen schießen ins Kraut. Die Lage aber bleibt unklar. Das bekommen auch die Einsatzkräfte vor Ort zu spüren. Jeder neuen Information müssen sie nachgehen. War Scheuer früh am Morgen mit dem Auto unterwegs? Wollte er vielleicht zur Schule fahren – und an den „Idioten“ ein Exempel statuieren? Und gibt es den zweiten Mann, könnte der jetzt aus Wut über den Tod des Freundes ein Blutbad planen? Auch Toms Brüder Maik (Max Krause) ging auf die verhasste Schule. Könnte er der Komplize sein? Wenn nicht, weshalb ist dann sein Handy seit Stunden ausgeloggt?! Die verstörten Eltern der beiden (Isabella Bartdorff, Martin Lindow) müssen das Geschehene erst realisieren und sind den Kommissaren keine Hilfe.

Tatort – Unklare LageFoto: BR / Hagen Keller
Die Polizei-Direktorin (Corinna Kirchhoff) und der Vizepräsident (Axel Pape) müssen die unklare Situation beurteilen, müssen abwägen und entscheiden. Und das schnell!

Der „Tatort – Unklare Lage“ zeigt, wie nach einem Tötungsdelikt, bei dem ein terroristischer Hintergrund nicht auszuschließen ist, der Polizeiapparat in Gang gesetzt wird und sich viele Stunden in höchster Alarmbereitschaft befindet: SEK, Streifenpolizisten, Bereitschaftspolizei, Batic und Leitmayr, alle sind unentwegt im Einsatz – und der Führungsstab muss nicht nur ein Mal abwägen zwischen dem Recht des Einzelnen und der öffentlichen Sicherheit. Nachdem ein flüchtiger zweiter Mann, der eine Amoktat planen könnte, nicht auszuschließen ist, wird das Zentrum von München abgeriegelt. Keine Autos, kein Nahverkehr. Der Film von Pia Strietmann („Sturköpfe“) nach dem Drehbuch von Holger Joos („Tatort – Der Tod ist unser ganzes Leben“) simuliert höchst realistisch einen solchen städtischen Ausnahmezustand. Weil möglicherweise Schlimmeres verhindert werden muss, bleibt für die Frage nach dem Warum der Tat keine Zeit. Für eine Analyse ist die Faktenlage ohnehin viel zu unsicher. Und so wird man als Zuschauer Zeuge eines solchen für die Bevölkerung bedrohlichen Scenarios und seiner nicht untypischen Dramaturgie. Es gilt, Panik zu vermeiden. Die Polizei versucht, sich zunächst einen Überblick zu verschaffen, danach mehr und mehr die Kontrolle über die Situation zu gewinnen, um so die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen. Irgendwann am späteren Abend ist es dann soweit. Der Verkehr fließt wieder, München lebt und atmet auf. Allein Batic und Leitmayr überdenken noch einmal ihre Ermittlungen und stoßen auf eine heiße Spur. Und sie befürchten, dass es doch noch zu einem Anschlag kommen könnte.

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Es bleibt keine Zeit, um aktuelle Informationen oder Eingebungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. So schickt man das SEK an mögliche Brennpunkte, wo die Beamten – im Trial-and-Error-Verfahren – eine Situation selbst „prüfen“ müssen.

„Wenn die Form der Kriminalität in einer Gesellschaft immer auch deren Probleme widerspiegelt, könnte man die These aufstellen, dass es eine solche Tat befördern kann, wenn sich junge Menschen in einer Gesellschaft, die von Schaulust und Selbstinszenierung geprägt ist, nicht ausreichend wahrgenommen fühlen. Wo Empathie fehlt und soziale Einbindung nicht gelingt, entsteht das Gefühl von Aus-grenzung, von Zurücksetzung und damit Wut und im schlimmsten Fall eine öffentliche Gewalt, die darauf zielt, etwas in die Welt zu setzen, das maximales Aufsehen erregt. (BR-Redakteurin Stephanie Heckner)

„Wir leben in einer Zeit von schneller Hysterie, oftmals gepaart mit der Verbreitung von nicht gesicherten Informationen, Halbwahrheiten und sogar Lügen, mit denen in vielen Teilen der Gesellschaft Stimmung gemacht wird. In Ausnahmelagen wie jener in unserem Film ist es die Aufgabe von Polizisten und Einsatzkräften, Ruhe zu bewahren und die Sicherheit bestmöglich zu garantieren. Der Fokus liegt dabei auf der Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit. Doch wie geht das, wenn auf den unterschiedlichen Kanälen teilweise wild spekuliert wird, wenn Menschen in Angst sind? (Produzent Michael Polle)

Tatort – Unklare LageFoto: BR / Hagen Keller
Unfassbar! Die Eltern des jugendlichen Täters (Isabella Bartdorff, Martin Lindow) stehen völlig neben sich und sind der Polizei keine Hilfe. Tatmotive sind kein Thema.

Ähnlich wie der Film endet, so beginnt er auch: mit Panik. „Hier wurde gerade jemand erschossen“, hört man eine aufgeregte Stimme sagen. Die Fahrgäste verstecken sich noch immer ängstlich unter ihren Sitzen. Ein Baby schaut mit großen Augen. „Er hat gesagt, er bringt uns alle um.“ Notrufempfänger und Zuschauer sind gleichermaßen gut informiert. „Hat er die Waffe noch bei sich?“, will der Mann am anderen Ende der Leitung wissen. Der telefonierende Fahrgast glaubt „schon“. Es dürfte also weiterhin eine Gefahr von diesem Mann ausgehen. Dem Handy-Ruf folgen Sirenen. Mit zittriger Hand macht ein Fahrgast ein Video von dem sich nähernden Polizeiwagen. Erste Fragen der Polizeibeamten nach dem flüchtigen Täter. Sekunden später marschiert das SEK an, sichert den Bus und lässt ihn räumen. Das Vorgehen ist rustikal. Keiner weiß, ob sich nicht ein weiterer potenzieller Attentäter im Bus versteckt; also heißt es „Hände hoch“. Wenig später kommen die Kommissare am Tatort an. Der Ernst der Lage ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Dieser Film-Einstieg dauert keine fünf Minuten. Er fängt aber alles ein, was diese Extremsituation mit sich bringt. Es ist über die dramatische Situation hinaus eine perfekte Exposition. Ein wahres Wunderwerk der Montage. Aber auch jede einzelne Einstellung besitzt mal affektsteigernde, mal die Linearität des Geschehens betonende, vor allem aber die Handlung konstituierende Momente. Dabei ist die Art der Darstellung, die Zerrissenheit der Bildfolge, die extremen Kamera-Perspektiven, außerdem die Ton-Ebene mit Dialog, Geschrei, Sirenen und Alltagsgeräuschen wesentlich für die hohe Intensität der Sequenz. „Unübersichtlichkeit, hohes Tempo und Druck waren die vorherrschenden Anhaltspunkte bei der filmsprachlichen Umsetzung“, sagt Pia Strietmann im BR-Pressedossier. Die Regisseurin bezieht ihre Aussage auf den gesamten Film.

Tatort – Unklare LageFoto: BR / Hagen Keller
Wie schon im letzten BR-„Tatort – One Way Ticket“: kein klassisches Ermitteln für Kommissar Leitmayr (Udo Wachtveitl) & Co – und das zeigt am Ende Wirkung!

Besonders in der ersten Halbzeit von „Unklare Lage“ drückt sich die allgemeine Verunsicherung in einem extrem hohen Erzähltempo aus. Das und die hektische Exposition unterscheiden sich aber grundsätzlich beispielsweise von dem „Chaos“, das Dominik Graf in einigen seiner letzten Polizeifilme – allen voran dem „Polizeiruf 110: Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ – filmästhetisch angerichtet hat. Während es bei ihm zur Autorenfilmer-Signatur zu gehören scheint und er offenbar Spaß daran findet, den Durchschnittszuschauer am Sonntag ein bisschen zu provozieren, entspricht die ungeordnete Filmsprache bei Pia Strietmann der „unklaren Lage“ des Geschehens. In der zweiten Hälfte des „Tatorts“ gibt es dann immer mal wieder Ruhemomente in Form von Befragungen, Vernehmungen, Gesprächen. Solche Szenen entlasten den Zuschauer oft auch ästhetisch: statt Reizüberflutung gibt es dann schon mal markante Köpfe vor schwarzem Hintergrund. Doch selbst in diesen verbal geführten Szenen fällt Strietmann und ihrem Kameramann Florian Emmerich („Ostwind“) immer etwas ein, das die Einstellungen einzigartig macht, ohne dabei das Dialog-Verstehen zu beeinträchtigen. So entfaltet sich gegen Ende aus einem langen Dialogwechsel im Büro der Kommissare ein wahrnehmungspsychologisch abwechslungsreiches Spiel zwischen farbig/hell (Batic) und dunkel (Leitmayr), statt zu einer langatmigen Talking-Heads-Szene zu werden. Und einmal sitzen die beiden Silberlocken nur geschafft in einem zugigen Flur, nachdem Batic aus einer Verfolgungsjagd per pedes als zweiter Sieger hervorgegangen ist. Bei einer solchen Szene kann auch der Zuschauer mal ein paar Sekunden durchatmen.

Beim Showdown muss dann der Franz in einer U-Bahnstation noch mal richtig Gas geben. Obwohl es doch so ein anstrengender Tag war. Wenn man sich wie Redakteurin Stephanie Heckner fragt, „warum setzt man ein solches Grauen am Sonntagabend in die Welt?“, könnte man als Antwort geben: weil es – leider – ein Stück nicht nur deutscher Wirklichkeit widerspiegelt. Aber auch, weil der Film zeigt, dass zu dieser Art Verbrechen nicht nur ein Täter gehört, sondern auch eine Gesellschaft, für deren Menschen Schaulust und Selbstinszenierung zur zweiten Natur geworden sind. „Ein Einzelner unterhält die ganze Welt“, lautet ein Satz des Täters. Und nebenbei ist es ja auch nicht verkehrt einmal zu sehen, unter welchem enormen Druck die Einsatzkräfte der Polizei stehen. Da sind Fehler unvermeidbar. Sogar Batic gerät nach der missglückten Verfolgungsjagd kurz in den Würgegriff des SEK. Als Zuschauer ist man am Ende schon ein bisschen geschockt, man ist geschafft von diesen 90 Minuten, aber nicht erschlagen. (Text-Stand: 27.12.2019)

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Reihe

BR

Mit Miroslav Nemec, Udo Wachtveitl, Ferdinand Hofer, Corinna Kirchhoff, Axel Pape, Isabella Bartdorff, Max Krause, Martin Lindow, Pauline Werner, Leonard Proxauf

Kamera: Florian Emmerich

Szenenbild: Michael Köning

Kostüm: Andrea Spanier

Schnitt: Dirk Göhler

Musik: Sebastian Pille

Redaktion: Stephanie Heckner

Produktionsfirma: X Filme Creative Pool

Produktion: Michael Polle

Drehbuch: Holger Joos

Regie: Pia Strietmann

Quote: 9,41 Mio. Zuschauer (26,4% MA); Wh. (2022): 6,13 Mio. (24,1% MA)

EA: 26.01.2020 20:15 Uhr | ARD

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