Früher war das – stark vereinfacht – im „Tatort“ so: Es geschah ein Mord, dann standen die Kommissare um die Leiche herum, fragten den Gerichtsmediziner nach Todesursache und -zeitpunkt und los ging die Tätersuche. Wenn der Eindruck nicht täuscht, ist der 08/15-Einstieg ein wenig aus der Mode gekommen. Auch die „Tatort“-Episode „Und immer gewinnt die Nacht“ beginnt mit einem Bilder-Puzzle, das (fast) alle wesentlichen Episoden-Figuren in den ersten dreieinhalb Minuten aneinanderreiht: Ein aufgeregter, junger Mann mit körperlichen Beeinträchtigungen geht, unverständliche Satzbrocken rufend, durch die Straße und bricht zusammen. Ein weibliches Liebespaar „containert“. Eine Frau um die 50 packt dicke Geldbündel in eine Tasche und verlässt die Wohnung. Ein Arzt leistet Erste Hilfe bei einem Obdachlosen. Ein alter Herr zündet sich hustend eine Zigarre an. Und eine Frau sitzt weinend in der Küche. „Für die Allerbeste“ steht auf der Torte vor ihr auf dem Tisch.
Weitere drei Minuten später fahren Kommissarin Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und BKA-Ermittlerin Linda Selb (Luise Wolfram) zum Tatort in den Containerhafen. Dr. Björn Kehrer (Markus Knüfken) – der Arzt, der einem Obdachlosen das Leben gerettet hat – war dort von einem Auto überfahren worden. Die nächtliche Szene hat das Publikum gesehen. Bei Tag offenbart sich, dass sein Gesicht außerdem regelrecht zerschlagen wurde. Der extreme Gewaltausbruch erscheint am Ende nicht sehr glaubwürdig – aber gegen jeden Zweifel daran, dass allen Menschen alles zuzutrauen ist, haben wir ja unseren Goethe: „Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht selbst hätte begehen können“, zitiert ihn Linda Selb, die Madame Sonderbar des Bremer „Tatort“-Teams, die von Verbrechen aller Art seit Kindesbeinen an fasziniert ist. Allerdings ist strittig, ob sich der aus Sekundärquellen in allerlei Online-Zitatesammlungen gewanderte, angebliche Spruch des „Dichterfürsten“ auf „Verbrechen“ und nicht etwa auf Fehler im Kunstschaffen bezog. Egal. Liv Moormann jedenfalls widerspricht: „Nee, echt nicht. Nicht jeder ist ein Mörder.“ Häufig fällt sie ihrer Kollegin in den Satz, beendet Selbs Gedanken mit eigenen Worten. Beide fremdeln noch ein wenig, aber man sieht schon: Die vorwitzige Kombinationsgabe und die nimmermüde Begeisterung für Verbrechen ergänzen sich und ergeben ein interessantes Ermittlerinnen-Duo.
Der männliche Teil des Trios hat erst einmal in Kopenhagen zu tun: Mads Andersen hält einen Vortrag über Integration, ärgert sich über eine Politikerin und lehnt den Bürojob im Innenministerium ab. Dann doch lieber riskante Action in Bremen, wo er auf eigene Faust loszieht, um die schweigsame Besatzung eines in Tatort-Nähe vor Anker liegenden Schiffes mit dem vielsagenden Namen „Always lucky“ unter die Lupe zu nehmen – der Action-Block mit Dar Salim, dem internationalen Star der Reihe. Außerdem wird Mads von Adil (Issa Khattab) verfolgt, dem jugendlichen Sohn eines Gangsterbosses, den Andersen als verdeckter Ermittler zur Strecke gebracht hatte. Die Nebenhandlung um Adil und Andersens Vergangenheit ist nicht sehr ausgefeilt und dient mehr der Charakterisierung des Dänen-Cops als schlagkräftigem, aber auch väterlichem Polizisten-Typ. Immerhin: Hier wird von richtigen Dänen richtiges Dänisch gesprochen, und dem „Tatort“-Publikum werden Untertitel zugemutet (im Gegensatz übrigens zum jüngst gestarteten „Dänemark-Krimi“ der ARD).
Die Krönung der reichlich gewagten Krimi-Konstruktion ist allerdings, dass Adil am Ende noch eine wichtige Rolle bei der Lösung des Falls um den ermordeten Arzt spielen wird. Die klassische „Wer ist’s gewesen?“-Suche bringt Figuren aus armen und wohlhabenden Verhältnissen zusammen, aber um die städtischen Milieus oder die soziale Kluft geht es nur am Rande. Der neue Bremer Look ist auch unter der Regie von Oliver Hirschbiegel abwechslungsreich und unterhaltsam. Gleichzeitig gewinnt das neue Bremer Team an Profil, der zweite Film fällt aber gegenüber der Premiere „Neugeboren“ doch ein Stück weit ab.
Drehbuch-Autor Christian Jeltsch dachte sich eine verzwickte Geschichte um Glückssuche und Selbstbestimmung, alte Schuld und enttäuschte Liebe aus. Dr. Kehrer, der in seiner Praxis Menschen ohne Bezahlung behandelt hat, war depressiv und Sozialist – „was sich möglicherweise einander bedingt“, wie Linda Selb trocken bemerkt. Jedenfalls fügte sich Kehrer regelmäßig selbst Brandwunden zu. Seine Sprechstundenhilfe Kirsten Beck (Lisa Jopt), die zu Beginn so einsam und unglücklich am Küchentisch saß, ist voll des Lobes für den verstorbenen Wohltäter und hoffte womöglich auf engeren privaten Kontakt. Seltsam: Gleichzeitig kassierte sie bei den Patienten, die vor Kehrers Praxis Schlange standen, auf eigene Rechnung ab. Wer nicht zahlen konnte oder wollte, wurde weggeschickt – wie Hendrik Gelsen (Ole Bramstedt), der junge Mann, der auf der Straße zusammenbrach.
Hendriks große Schwester Ann (Anna Bachmann) ist die große Liebe von Vicky Aufhoven (Franziska von Harsdorf), was wiederum Vickys Mutter Charlotte (Karoline Eichhorn) ein Dorn im Auge ist. Denn Ann stammt – wie Kommissarin Moormann – aus einem Viertel, in dem die Abgehängten der Gesellschaft leben. Die Aufhovens dagegen sind eine Familien-Dynastie aus der hanseatischen Tabakbranche. Allerdings kämpfen auch sie gegen den Niedergang – allen voran Ernst Stötzner als krebskrankem Patriarchen Claas-Heinrich Aufhoven, der fröhlich Zigarre paffend („Genuss verpflichtet!“) und allen ärztlichen Prognosen zum Trotz immer noch am Leben ist. Keine unbedingt vernünftige, aber von Stötzner mit Verve und Humor gespielte Figur. (Text-Stand: 22.11.2021)